Prof. Dr. jur. Holger Hoffmann
(für evt. Rückfragen: holger.hoffmann@fh‐bielefeld.de)
Europäische Entwicklungen im Flüchtlingsrecht – Januar bis Juli 2022
Inhaltsübersicht
(Die Seitenzahlen beziehen sich auf die PDF-Datei)
Seite A. EGMR – Rechtsprechung 4
I. Hinweise 4
- „Factsheets“ über begleitete minderjährige Migranten in Haft und Migranten in Haft – 4 Aktualisierung Juni 2022
- EUAA: Vierteljährlicher Überblick über die Asylrechtsprechung, März bis Mai 2022 4
- 15. Zusatzprotokoll zur EMRK gilt seit 1. Februar 2022 4
- Russland erklärte am 15. März 2022 Austritt aus Europarat 4
II. EGMR‐Urteile 5
- 10.02.2022 – Al Alo ./. Slowakei – 32084/19: Prozess und Verurteilung eines Syrers 5 gegen Menschenschmuggels verletzten Art. 6 Abs. 1 und 3 (Recht auf faires Verfahren)
- 24.02.2022 – M.B.K u. a. ./. Ungarn – 73860/17 – Verletzung Art. 3 und 5 wegen sieben 5 Monaten Haft in Transit – Einrichtung Röszke für afghanische Familie (Eltern und vier
Kinder) - 03.03.2022 – Nikoghosyan u. a. ./. Polen – 14743/17: Sechsmonatige Inhaftierung einer 6 Familie verletzt Art. 5 Abs.1
- 08.03.2022 – Aferdita Sabani ./. Belgien – 53069/15: Verletzung Art. 8 durch Festnahme 6 zur Abschiebung in Wohnung ohne Rechtsgrundlage
- 10.03.2022 – Shenturk u. a. /. Aserbaidschan – 41326/17 u. a.: Abschiebungen türkischer 7 Staatsangehöriger aus Aserbaidschan in die Türkei verletzten Art. 3 und 5
- 22.03.2022 – T.K. u. a. /. Litauen – 55978/20: Abschiebung einer tadschikischen Familie 7 ohne erneute Prüfung möglicher Misshandlungen verletzt Art. 3
- 29.03.2022 – N.K. v. Russland – 45761/18: Inhaftierung und Abschiebung eines Tadschiken 8 verletzen Art. 3 und 5
- 05.04.2022 – A.A. u. a. /. Nordmazedonien – 55798/16, 55808/16, 55817/16: Keine Ver‐ 8 letzung von Art. 4 Prot. Nr. 4 bei „Marsch der Hoffnung“
- 26.04.2022 – M.A.M. /. Schweiz – 29836/20: Abschiebung eines konvertierten Christen 9 nach Pakistan würde dessen Rechte nach Artikel 2 und 3 verletzen
- 17.05.2022 – Ali Reza ./. Bulgarien – 35422/16 –Verletzung Art. 5 Abs. 1 wegen fast sieben 9 monatiger Inhaftierung bis zur Vollstreckung der Abschiebungsanordnung
- 02.06.2022 – H.M. u. a. /. Ungarn – 38967/17: Verletzung Art. 3.und 5 wegen Inhaftierung 9 und Behandlung einer Schwangeren und ihrer Familie in der Transitzone Tompa
- 14.06.2022 – L.B. v. Litauen – 38121/20: Verletzung Art. 2 Prot. Nr. 4 durch Verweigerung, 10 ein Reisedokument für einen ständigen Einwohner mit subsidiärem Schutz auszustellen
- 14.06.2022 – K.N. ./.UK – Nr. 28774/22: EGMR ordnet einstweilige Maßnahmen an, um 11 drohende Abschiebung nach Ruanda zu stoppen
- 21.06.2022 – Akkad ./. Türkei: Nr. 1557/19 – Verletzung Art. 3, 5 und 13 bei Abschiebung 11 nach Syrien
- 30.06.2022 – A.B. u. a. /. Polen (42907/17) und A.I../. Polen (39028/17): Kollektive Ab‐ 12 schiebung tschetschenischer Familien an der polnisch‐weißrussischen Grenze verletzt Art. 3,
13 und Art. 4 Prot. Nr. 4 - 07.07.2022 – Safi u. a. ./.Griechenland – 5418/15: Verletzungen Art. 2 und 3 bei Pushback‐ 13 Aktion der griechischen Küstenwache 2014
- Flüchtlingsrechtliche bedeutsame anhängige („kommunizierte“) Verfahren (Stand: Juli 2022) 14
- a) A.D. ./. Malta – 12427/22 – übermittelt: 24.05.2022 (Rechtmäßigkeit der Inhaftierung 14 eines Mdj – Art. 3, 5, 13 und 14)
- b) Omarova ./. Niederlande – 60074/21 übermittelt: 31.05.2022 (Art. 8 – Familienleben) 14
- c) S. A. ./. Griechenland – 51688/21 übermittelt: 01.06.2022 (Art. 3 wegen unzureichender 15 Lebensbedingungen und fehlender angemessener medizinischer Behandlung eines Kindes)
- d) Mohamed ./. Serbien – Nr. 4662/22 übermittelt: 14.06.2022 (Art. 3 und Art. 13 wegen 15 rechtswidriger Auslieferung/ Gefahr lebenslanger Haft)
B. EuGH‐Rechtsprechung 15
- 20. Januar 2022 – C‐432/20: Österreichs Auslegung der Normen über den Verlust des Dauer‐ 15 aufenthalts in RL 2003/109/EG steht nicht im Einklang mit den Zielen der RL
- 22.02.2022 – C‐483/20 – XXXX ./. Belgien (Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides): 16 MS dürfen einem Ast., der bereits in einem anderen MS internationalen Schutz genießt, Schutz nach dem Grundsatz der Einheit der Familie gewähren.
- 03.03.2022 UN ./. Spanien (Subdelegación del Gobierno en Pontevedra): Auslegung der Rück‐ 16 führungsRL und Möglichkeit für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige, ihren Aufenthalt zu regularisieren
- 10.03.2022 – K. ./. Landkreis Gifhorn – C‐519/20 – Auslegung von Art. 16 und 18 RückfüRL – 17 Abschiebungshaft und Abschiebehafteinrichtungen in Deutschland
- 31.03.2022 – C‐368/20 – I.A. ./. Österreich (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – BFA) 18 zur Auslegung von Art. 29 Abs. 2 Dublin‐VO: Unfreiwillige Einweisung eines Asylbewerbers in ein psychiatrisches Krankenhaus ist keine Inhaftierung i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Dublin‐III‐VO
- 26.04.2022 (Gr. Kammer) – C‐368/20 und C‐369/20: N.W.u. a. ./. Österreich (Landespolizei 18 direktion Steiermark und Bezirkshauptmannschaft Leibnitz): Schengener Grenzkodex steht vorübergehender Einführung von Grenzkontrollen entgegen, wenn sie die Höchstdauer von
sechs Monaten überschreiten und keine neue Gefahr besteht - 30.06.2022 – C 72/22 PPU M.A. ./. Litauen – Notstandsregelungen in Litauen nicht EU‐rechts‐ 19 konform – Vorabentscheidungsersuchen des litauischen OVG
- Schlussanträge in anhängigen Verfahren 20
a) 24.03.2022 – C‐720/20: Deutschland ist für den Asylantrag eines mdj. Kindes zuständig, 20 dessen Eltern bereits in einem anderen MS die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde
(Vorlage VG Cottbus)
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- b) 02.06.2022 – C‐245/21 / C‐248/21 – Aussetzung der Dublin‐Überstellung wegen 20 Covid‐19 – Vorabentscheidungsersuchen des BVerwG zur Auslegung der Dublin‐III‐
Verordnung und den Rechtsfolgen einer Entscheidung über die Aussetzung einer
Überstellung im Zusammenhang mit der Covid‐19‐Pandemie. - c) 02.06.2022–C66/21–O.T.E../.Niederlande–zur„Bedenkzeit“fürOpferdesMen‐ 21 schenhandels (RL 2004/81) – Vorabentscheidungsersuchen des Bezirksgerichts Den Haag
- d) 21.06.2022 – C‐704/20 und C‐39/21: Umfassende Prüfungspflicht bei Abschiebehaft 22
- e) 30.06.2022 – C‐280/21: Erhebung einer Klage gegen eine mit dem korrupten Staat ver‐ 23 bundene Person kann als politische Dissidenz angesehen werden
C. BVerfG – Beschlüsse vom 30.03.2022 und 20.04.2022 24 (2 BvR 1713/21 und 2 BvR 2069/21)
- Schweizer Bundesverwaltungsgericht 28.03.2022 – E‐3427/2021 – 25 Strengere Kriterien bei Überstellungen nach Griechenland
- Politische Entwicklungen 25
- 18‐Monatsprogramm des Rates (01.01.2022 bis 30.06.2023 – Frankreich, Tschechien, 25 Schweden)
- 19.01.2022 EU‐Asylagentur „EUAA“ (Sitz: Valetta/Malta, Vorläufer: EASO) nahm Arbeit auf 26
- 26.01.2022 – Änderungen zum Schengener Grenzkodex 27
- 02.02.2022 und 10.06.2022: EU‐Rat „Justiz und Inneres“ 28
a) informelles Treffen am 02.02.2022 – Ergebnisse 28
b) Ratssitzung am 10. Juni 2022 – Ergebnisse/vorläufige Vereinbarungen zu Asyl und Migration 29
- 04. März 2022: EU‐Rat aktiviert einstimmig zum vorübergehenden Schutz für Kriegsflücht 31 linge aus der Ukraine erstmals „Massenzustrom“‐Richtlinie (2001/55/EG)
- Auswirkungen des Ukraine‐Krieges auf Dublin‐Überstellungen 32
- Anstieg illegaler Grenzübertritte in der EU 2021 33
- 24.05.2022 – Erster Bericht der EU‐Kommission über Zustand des Schengen‐Raums 33
- Zur Lage an den EU‐Außengrenzen Griechenland, Kroatien und Spanien, Marokko, Polen 33 a) Griechenland 33
aa) Geflüchtete als gedungene Helfer bei Pushbacks 33
bb) Griechenland verlängert Grenzzaun zur Türkei und ignoriert AsylverfRL 33
- b) Kroatien – Pushbacks 34
- c) Spanien und Marokko: nach Toten an der Grenze zu Melilla, engere Kooperation bei 36 Migration vereinbart
- d) Polen 12.05.2022: 60 Kilometer Befestigung an der Grenze zu Belarus fertiggestellt – 36 zur Lage an der Grenze
- e) Zentrales Mittelmeer: Rettungsaktionen und Zahl der Todesopfer steigen weiter an 37
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Schlussbemerkung 39
A. EGMR – Rechtsprechung
I. Hinweise
- „Factsheets“ über begleitete minderjährige Migranten in Haft und Migranten in Haft – Aktualisie‐ rung Juni 2022 Der EGMR hat seine (englischsprachigen!) „Factsheets“ aktualisiert zur Rechtsprechung bei Inhaftie‐ rung begleiteter Minderjähriger und zur Inhaftierung von Migranten. Die „Factsheets“ fassen Fälle zusammen, in denen sich der EGMR mit Verletzungen des Rechts auf Leben, Haftbedingungen, Frei‐ heitsentzug, Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung und/oder Recht auf Achtung des Fami‐ lienlebens befasst hat. (https://www.echr.coe.int/Documents/FS_Accompanied_migrant_minors_detention_ENG.pdf (https://www.echr.coe.int/Documents/FS_Migrants_detention_ENG.pdf)
- EUAA: Vierteljährlicher Überblick über die Asylrechtsprechung, März bis Mai 2022 Die neue Agentur der Europäischen Union für Asylfragen (EUAA) publiziert einen vierteljährlichen Überblick über die Rechtsprechung im Asylbereich (Google: Quarterly Overview of Asylum Case Law – Issue No 2/2022). Der englischsprachige Überblick enthält eine Auswahl von Fällen aus der EUAA‐ Fallrechtsdatenbank mit Urteilen und einstweiligen Anordnungen von EGMR, EuGH, nationalen Ge‐ richten und anderen internationalen Rechtsinstrumenten von März bis Mai 2022.
- 15. Zusatzprotokoll zur EMRK gilt seit 1. Februar 2022 Wichtig: Beschwerdefrist auf vier Monate nach der letzten nationalen Entscheidung verkürzt! Seit 01.02.2022 ist die Frist für die Eingabe einer Beschwerde (Art. 35 Abs 1 EMRK) beim EGMR von sechs auf vier Monate verkürzt, gerechnet ab dem Tag, an dem eine Entscheidung des höchsten na‐ tionalen Gerichts ergangen ist. Weitere wichtige Änderungen für die Praxis: Der EGMR kann eine Beschwerde für unzulässig er‐ klären, wenn dem Bf. kein erheblicher Nachteil entstand und die Beschwerde zuvor innerstaatlich geprüft wurde. Die Parteien können gegen die Überweisung eines Falles an die Große Kammer keinen Einspruch mehr erheben.
- Russland erklärte am 15. März 2022 Austritt aus Europarat Russland wird sich auch nicht mehr an seitdem ergangene Urteile des EGMR halten. Präsident Putin unterschrieb ein Gesetz, nach dem Urteile des EGMR, die nach dem 15. März ergangen sind, nicht mehr umgesetzt werden. Eigentlich müsste sich Russland aber bis zum 26.09.2022 an die Urteile hal‐ ten – bis dahin eingehende Anträge prüft der EGMR noch. Der Europarat hatte Russlands Mitglied‐ schaft am 25. Februar in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine zunächst suspendiert. Nach‐ dem der Kreml am 15. März seinen Austritt erklärt hatte, wurde Russland endgültig aus dem Europa‐ rat ausgeschlossen.
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II. EGMR‐Urteile
- 10.02.2022 – Al Alo ./. Slowakei – 32084/19: Prozess und Verurteilung eines Syrers wegen Men‐ schenschmuggels verletzten Art. 6 Abs. 1 und 3 (Recht auf faires Verfahren) Der Bf., Syrer, wurde in der Slowakei wegen Menschenschmuggels zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Er war im Januar 2017 mit zwei weiteren Migranten an der slowakisch‐österreichischen Grenze ab‐ gefangen worden. Die beiden anderen, von denen er der Schleusung beschuldigt wurde, sagten vor ihrem Prozess aus und wurden noch vor dem Prozess gegen den Bf. ausgewiesen. Während des Pro‐ zesses wurde auf deren schriftliche Aussagen zurückgegriffen, aber es wurde nicht versucht, sie zu laden und persönlich zu vernehmen. Der Bf. hält deswegen Art. 6 (1) und (3) c) und d) für verletzt. EGMR: Das Argument der Regierung, obwohl Adressen und Ausweise der Zeugen bekannt waren, sei es Pflicht des Bf. gewesen, nachzuweisen, dass die Zeugen wieder in die Slowakei kommen würden, wies der EGMR zurück. Die Slowakei habe nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Zeugen im Ausland zu laden. Es sei aber staatliche Pflicht, alle zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um die Anwesenheit abwesender Zeugen in der Verhandlung sicherzustellen. Da es die Möglichkeit gab, dies zu tun und keine akzeptable Rechtfertigung für dieses Versäumnis gegeben wurde, bestan‐ den keine triftigen Gründe dafür, die vorgerichtlichen Aussagen der Zeugen zu verwerten. Zwar sei das Fehlen eines triftigen Grundes für das Nichterscheinen eines Zeugen für sich genommen noch kein Beweis für ein unfaires Verfahren. Der Bf. habe zudem auf sein Recht verzichtet, zur Vorver‐ handlung und der dortigen Zeugenvernehmung zu erscheinen. Die Informationen, die ihm über das Vorverfahren zur Verfügung gestellt wurden, seien aber weder umfangreich noch detailliert gewesen und hätten nicht auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die dortigen Aussagen als Beweismittel in der Verhandlung gegen ihn verwendet werden könnten. Seine Entscheidung, bei der vorprozessualen Befragung nicht anwesend zu sein und die Aussagen bei dieser Gelegenheit nicht zu prüfen, dürfe daher nicht als vollständiger Verzicht auf seine Rechte nach Art. 6 Abs. 3 d angesehen werden. Viel‐ mehr sei ihm die Möglichkeit genommen worden, in der gerichtlichen Verhandlung Zeugen zu ver‐ nehmen, deren Aussagen für sein Verfahren von erheblichem Gewicht waren. Deswegen verstieß das Verfahren gegen Art. 6 Abs. 1 und 3 d.
- 24.02.2022 – M.B.K u. a. ./. Ungarn – 73860/17 – Verletzung Art. 3 und 5 wegen sieben Monaten Haft in Transit – Einrichtung Röszke für afghanische Familie (Eltern und vier Kinder) Die Familie kam im März 2017 in der Transitzone an und blieb dort, bis der Flüchtlingsstatus zuer‐ kannt und sie im Oktober 2017 in ein Aufnahmezentrum verlegt wurde. Der EGMR stellte unter Ver‐ weis auf seine Entscheidung zu R.R. u. a. (Nr. 36037/17 – U. v. 02.05.2021 – ein Zeitraum von vier Monaten in der Transitzone verletzt die Rechte des minderjährigen Antragstellers) hier ein weiteres Mal eine Verletzung von Art. 3 bezgl. der Mdj. fest. Demgegenüber entschied er, für die Erwachsenen seien die Lebensbedingungen in der Transitzone im Allgemeinen akzeptabel gewesen. Dass die Familie nicht getrennt wurde, war eine Erleichterung, auch wenn die Unterbringung insgesamt zu Gefühlen der Frustration, Angst und Ohnmacht hätte führen können. Art. 3 wurde daher bei den erwachsenen Bf. nicht verletzt. Zu Art. 5 stellte der EGMR unter Verweis auf die Ähnlichkeit der Fakten im vorliegenden Fall und in R.R. Verstöße gegen Art. 5 (1) und (4) fest. Zwar hielt er die Beschwerde nach Art. 3 bezüglich der erwachsenen Bf. für unzulässig im Hinblick auf Art. 13. Die übrigen Beschwerden (Art. 13 i.V.m. Art. 3 in Bezug auf die Kinder und Art. 34) seien aber zulässig. Unter Hinweis auf die Erwägungen in R.R.
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u. a. sei es aber unnötig, diese gesondert zu prüfen. 17.^ EUR Schadensersatz für immaterielle Schäden und 1.500 EUR für das gerichtliche Verfahren wurden zugesprochen.
- 03.03.2022 – Nikoghosyan u. a. /. Polen – 14743/17: Sechsmonatige Inhaftierung einer Familie verletzt Art. 5 Abs. 1 Die Bf., eine armenische Familie, hatte von 10/2016 bis 11/2016 mehrfach versucht, nach Polen ein‐ zureisen und dort Asyl zu beantragen. Sie wurden in die Ukraine zurückgeschickt. Am 06.11.2016 beantragten sie Asyl. Der Antrag wurde im April 2017 abgelehnt. Während dieser Zeit und bis Mai 2017 wurden die Bf. in einem bewachten Zentrum in Biala Podlaska in Administrativhaft gehalten. EGMR zu Art. 5 Abs. 1: Die Angaben der Bf. zu ihren Gründen für die Einreise nach Polen zu prüfen, habe zunächst einen hinreichenden Grund für ihre Inhaftierung dargestellt. Nachdem jedoch seit Dezember 2016 keine Informationen von ihnen eingeholt wurden, reichte die Berufung darauf zur Verlängerung der Inhaftierung nicht aus. Die gesetzliche Vermutung, von den Bf. ginge hohe Flucht‐ gefahr aus, sei vom polnischen Gericht nicht hinreichend oder individuell geprüft worden (z. B: eine Entscheidung des Bezirksgerichts, in der einer der Bf. mit dem falschen Geschlecht bezeichnet wurde). Dass drei minderjährige Kinder mitbetroffen waren, sei von den Gerichten ebenfalls nicht berücksichtigt worden, als sie beschlossen, die Bf. in Gewahrsam zu nehmen. Inhaftierung von Klein‐ kindern solle aber vermieden werden. Die Behörde müsse nachweisen, dass diese Maßnahme als letztes Mittel ergriffen wurde, falls weniger restriktive nicht verfügbar waren. Die fast sechsmonatige Inhaftierung der Bf. war kein „letztes Mittel“, eine Alternative stand zur Verfügung.
- 08.03.2022 – Aferdita Sabani ./. Belgien – 53069/15: Verletzung Art. 8 durch Festnahme zur Ab‐ schiebung in Wohnung ohne Rechtsgrundlage Das Verfahren betrifft eine Staatsangehörige der albanischen Minderheit, die in Serbien lebt. Sie kam 2009 nach Belgien und stellte bis 2015 zahlreiche Anträge auf Asyl und Regularisierung (aus medizi‐ nischen und humanitären Gründen), die alle negativ beschieden wurden. Am 19. März 2015 erhielt sie eine Ausreiseaufforderung („OQT“) mit Einreiseverbot. Am 20. März 2015 reagierte Serbien posi‐ tiv auf ein Rückübernahmeersuchen der Ausländerbehörde („AO“). Eine für den 1. April 2015 ge‐ plante Rückführung wurde aufgrund der Einreichung eines weiteren Asylantrags abgesagt. Am 2. April 2015 erhielt die Bf. ein TQV, das mit einer freiheitsentziehenden Maßnahme verbunden war. Sie wurde in ihrer Wohnung festgenommen und in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht. Am 15. April 2015 entschied die Ratskammer des erstinstanzlichen Gerichts („TPI“) in Brüssel, die Bf. in Haft zu belassen, da die Begründung der Entscheidung der OE ausreichend und angemessen sei und die OE mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt habe. Ebenso sah es Berufungsgericht. Die Revision wurde am 10. Juni 2015 mit der Begründung zurückgewiesen, dass sie gegenstandslos geworden sei, weil am 25. Mai 2015 ein neues TQV mit Verlängerung der freiheitsentziehenden Maßnahme gegen die Bf. erlassen wurde. Für den 27. Mai 2015 war eine weitere Rückführung geplant, die jedoch auf‐ grund der Einreichung eines Asylantrags ebenfalls abgesagt wurde. Die Haft wurde aufrechterhalten, die Bf. am 30. Juni 2015 zurückgeführt. Sie macht geltend, sie habe aufgrund der Haftverlängerung und anschließenden Abschiebung ent‐ gegen Art. 5 Abs. 4 nicht das Recht gehabt, die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs gerichtlich über‐ prüfen zu lassen. Sie beschwert sich außerdem über eine Verletzung von Art. 8, da die Polizei ohne Rechtsgrundlage oder richterliche Anordnung in ihr Haus eingedrungen sei, um sie zu verhaften. Die
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belgischen Behörden beriefen sich auf Ordnungsrecht, wonach die Polizei Personen festhalten darf, die nicht über gültige Aufenthaltspapiere verfügen.
Der EGMR sah darin keine klare und präzise Rechtsgrundlage zum Betreten einer Wohnung zum Zweck der Festnahme eine*r ausreisepflichtigen Ausländer*in und stellte eine Verletzung von Art. 8 fest.
- 10.03.2022 – Shenturk u. a./. Aserbaidschan – 41326/17 u. a.: Abschiebungen türkischer Staats‐ angehöriger aus Aserbaidschan in die Türkei verletzten Art. 3 und 5 Der Fall betrifft vier türkische Staatsangehörige, die nach Aserbaidschan zogen, wo sie in Privat‐ schulen und Unternehmen arbeiteten, die der Gülen‐Bewegung nahestehen. Ihre Asylanträge in Aserbaidschan wurden ignoriert und sie wurden in die Türkei abgeschoben, wo sie wegen angeb‐ licher Beteiligung an der so genannten Fetullah‐Terrororganisation/Parallelstaatsstruktur in Gewahr‐ sam genommen wurden. Die Bf. rügen, ihre Inhaftierung und anschließende Abschiebung von Aser‐ baidschan in die Türkei verletze Art. 3, 5 und 13. EGMR zur Verletzung von Art. 5 Abs. 1: Die gesamte Haft des ersten und die verschiedenen Haftzeiten des zweiten, dritten und vierten Bf. beruhten nicht auf förmlichen Entscheidungen und verletzten so Art. 5 Abs. 1. Die Abschiebung in die Türkei verstieß gegen das förmliche Auslieferungsverfahren und die einschlägigen internationalen Garantien. Verletzung Art. 3: Die Behörden Aserbaidschans hätten zu keinem Zeitpunkt die Befürchtungen der Bf. geprüft, nach Abschiebung in die Türkei misshandelt zu werden. Die Entscheidung, sie aus Aser‐ baidschan abzuschieben, die sich auf die Annullierung des Passes oder der Aufenthaltsgenehmigung stützte, war nur ein Vorwand, um eine „verschleierte Auslieferung“ durchzuführen. Wirksame Ga‐ rantien für den Schutz vor willkürlicher Zurückweisung wurden verweigert. Aserbaidschan sei seiner Verpflichtung nach Art. 3 nicht nachgekommen, da versäumt wurde, die Risiken einer gegen Art. 3 verstoßenden Behandlung der Bf. zu bewerten.
- 22.03.2022 – T.K. u. a./. Litauen – 55978/20: Abschiebung einer tadschikischen Familie ohne erneute Prüfung möglicher Misshandlungen verletzt Art. 3 Der Asylantrag einer tadschikischen Familie wurde in Litauen abgelehnt. Sie sollten nach Tadschikis‐ tan abgeschoben werden. T.K. war Mitglied der tadschikischen islamistischen Renaissance‐Partei (IRPT), einer in Tadschikistan verbotenen Organisation, und machte geltend, seine Abschiebung ver‐ letze Art. 3 und 13. EGMR: Das Bestehen einer Gefahr von Misshandlungen ist anhand der Tatsachen zu beurteilen, die Litauen z. Zt. des Verfahrens bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen. Die allgemeine Lage in Tadschikistan ließ nicht erkennen, dass eine Abschiebung ein tatsächliches Risiko einer gegen Art. 3 verstoßenden Behandlung darstelle, so dass die persönlichen Umstände hätten geprüft werden müs‐ sen. Die Praxis der Misshandlung von IRPT‐Mitgliedern war Teil der Asylanträge. Die Informationen des Herkunftslandes ließen nicht darauf schließen, dass nur Anführer und hochrangige Mitglieder des IRPT von Verfolgung betroffen waren. Die litauischen Behörden hätten keine angemessene Bewer‐ tung der Misshandlungspraxis gegenüber Personen, die sich in einer ähnlichen Situation wie die Bf. befinden, vorgenommen und sich stattdessen auf das Fehlen früherer Bedrohungen und Verfolgun‐ gen der Bf. konzentriert. Art. 3 würde daher verletzt, wenn die Bf. nach Tadschikistan abgeschoben würden, ohne dass erneut geprüft wurde, ob sie bei ihrer Rückkehr der Gefahr von Misshandlungen
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ausgesetzt wären. (Zugleich Entscheidung nach Art. 39 VerfahrensO bis zur Rechtskraft des Urteils oder weiterer Entscheidung des EGMR.)
- 29.03.2022 – N.K. v. Russland – 45761/18: Inhaftierung und Abschiebung eines Tadschiken ver‐ letzen Art. 3 und 5 Ein Tadschike wurde in Abwesenheit wegen Mitgliedschaft in einer extremistischen Organisation von tadschikischen Behörden angeklagt und später in Russland in Abschiebehaft genommen. Er berief sich auf Art. 3, 5 und 34 in Bezug auf die Haftbedingungen in Russland, den Verstoß gegen die einst‐ weiligen Maßnahmen gegen die Abschiebungsanordnung, die fehlende Untersuchung seiner Entfüh‐ rung sowie seine die Misshandlung und eine zu befürchtende lange Haftstrafe in Tadschikistan. EGMR: In früheren Fällen mit ähnlichem Sachverhalt wurde festgestellt, dass Personen, um deren Auslieferung die tadschikischen Behörden wegen politisch motivierter Straftaten ersucht hatten, eine schutzbedürftige Gruppe darstellen, für die im Falle einer Abschiebung die reale Gefahr einer gegen Art. 3 verstoßenden Behandlung bestehe. Die russischen Behörden wussten, dass dem Bf. eine ge‐ waltsame Überstellung in das Land drohte, in dem er Folter oder Misshandlung ausgesetzt sein könnte und dass einschlägige Schutzmaßnahmen hätten getroffen werden müssen. Dennoch ver‐ suchten sie nicht, die Angelegenheit zu untersuchen und so die einstweiligen Maßnahmen nach Art. 39 VerfO zu berücksichtigen oder Schritte bezüglich der prekären Situation des Bf. zu unternehmen. Die russischen Behörden hätten den Bf. vielmehr durch Anordnung seiner Abschiebung der realen Gefahr der Misshandlung in Tadschikistan ausgesetzt, waren in seine gewaltsame Rückführung ver‐ wickelt, hätten keine wirksame Untersuchung seiner Entführung durchgeführt. Damit hätten sie Art. 3 verletzt. Auch die einstweilige Maßnahme des EGMR sei unbeachtet geblieben, wodurch sie ihre Verpflichtungen nach Art. 34 verletzten. Die Haftbedingungen in Russland hätten Art. 3 und 5 Abs. 4 verletzt.
- 05.04.2022 – A.A. u. a. /. Nordmazedonien – 55798/16, 55808/16, 55817/16: Keine Verletzung von Art. 4 Prot. Nr. 4 bei „Marsch der Hoffnung“ Die acht Bf., afghanische, irakische und syrische Staatsangehörige, überquerten im März 2016 mit einer ca. 1.500 Personen umfassenden Flüchtlingsgruppe aus dem Camp Idomeni in Griechenland kommend die Grenze nach Nordmazedonien („Marsch der Hoffnung“). Ihre Beschwerde: Sie wurden ohne vorheriges behördliches Identifizierungsverfahren, Prüfung ihrer persönlichen Situation oder die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, entgegen Art. 4 Prot. Nr. 4 EMRK kollektiv abgeschoben. Der EGMR entschied einstimmig, es hätten keine Gründe vorgelegen, den Grenzübergang Bogorodica oder eine andere Grenzübergangsstelle nicht zu benutzen, um Gründe gegen eine Ausweisung vor‐ zubringen. Die Bf. seien nicht interessiert gewesen, Asyl zu beantragen, sondern nur an einer Durch‐ reise, die aber nicht mehr möglich gewesen sei. Nordmazedonien habe einen wirksamen Zugang zu Verfahren für die legale Einreise gewährt, insbes. durch Antragsmöglichkeiten auf internationalen Schutz an Grenzübergangsstellen, vor allem im Hinblick auf Schutz gem. Art. 3. Die Bf. hätten keine objektiven Gründe gehabt, dieses Verfahren nicht in Anspruch zu nehmen. Sie hätten sich vielmehr durch illegale Einreise unter Ausnutzung zahlenmäßiger Überlegenheit selbst in Gefahr gebracht. Das Fehlen individueller Abschiebungsentscheidungen sei Folge ihres Verhaltens gewesen.
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- 26.04.2022 – M.A.M./.Schweiz – 29836/20: Abschiebung eines konvertierten Christen nach Pakistan würde dessen Rechte nach Art. 2 und 3 verletzen Der Bf., Pakistani, konvertierte zum Christentum, während sein Asylantrag in der Schweiz bearbeitet wurde. Nach behördlicher Ablehnung des Antrags lehnte das schweizerische BVerwG auch die Be‐ schwerde wegen Nichtberücksichtigung der Konversion ab. EGMR: Die Behörden der Schweiz wussten von der Tätigkeit des Bf. in der Heilsarmee und seinen gottesdienstlichen Aktivitäten, ohne ihn dazu zu befragen. Bezüglich Art. 3 bestehe aber die staat‐ liche Verpflichtung, das Risiko einer Misshandlung im Fall einer Abschiebung zu bewerten, sobald Behörde oder Gericht Kenntnis von Tatsachen erhalten, die eine Person einem solchen Risiko aus‐ setzen könnten. Zwar habe das Gericht die Situation der Christen in Pakistan untersucht und war zu dem Schluss gekommen, eine Gefahr kollektiver Verfolgung bestehe nicht. Es hätte aber zusätzlich die besondere Situation konvertierter Christen berücksichtigen müssen. Zu Art. 2 und 3 habe das Gericht die Situation von Konvertiten und die persönliche Situation des Bf. in Bezug auf seine Kon‐ version, die Ernsthaftigkeit seiner Überzeugungen, die Art und Weise, wie er seinen Glauben in der Schweiz zum Ausdruck brachte und in Pakistan zum Ausdruck bringen wolle, die Kenntnis seiner Familie von seiner Konversion und seine Anfälligkeit für Ausweisung und Blasphemievorwürfe nicht gründlich genug untersucht. Würde der Bf. nach Pakistan abgeschoben, ohne dass die schweizeri‐ schen Behörden zuvor eine gründliche und strenge Ex‐nunc‐Bewertung der allgemeinen Situation christlicher Konvertiten in Pakistan und der persönlichen Situation des Beschwerdeführers als christ‐ licher Konvertit im Falle seiner Rückkehr vorgenommen hätten, würden Art. 2 und 3 verletzt.
- 17.05.2022 – Ali Reza./. Bulgarien – 35422/16 – Verletzung Art. 5 Abs.1 wegen fast siebenmonati‐ ger Inhaftierung bis zur Vollstreckung der Abschiebungsanordnung Der Bf., irakischer Staatsangehöriger, kam im Jahr 2000 nach Bulgarien und erhielt aufgrund der Kriegssituation im Irak zunächst subsidiären Schutz, dann 2003 eine Aufenthaltserlaubnis. 2015 wurde er „aus Gründen der nationalen Sicherheit“ ausgewiesen und zwischen 06/ 2015 und 01/ 2016 in Verwaltungshaft genommen, während sein Widerspruch gegen die Ausweisung geprüft wurde. 12/2017 heiratete er seine bulgarische Partnerin. Seit Januar 2016 unterlag er behördlicher Über‐ wachung. Er musste sich einmal wöchentlich auf einer Polizeistation melden. Die Inhaftierung sei angeordnet worden – so die bulgaischen Behörden –, weil die Abschiebung mangels erforderlicher Reisedokumente nicht durchgeführt werden konnte. EGMR: Zwar könne das Versäumnis anderer Staaten, Reisedokumente auszustellen, bulgarischen Be‐ hörden nicht angelastet werden. Sie hätten aber keine aktiven Schritte unternommen, Abhilfe zu schaffen oder Aussichten für die Abschiebung des Bf. zu prüfen. Zu Art. 5 Abs. 4: Dem Bf. stand ein innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung, den er nicht nutzte. (Immaterieller Schaden: 3.500 EUR, kein Antrag in Bezug auf Kosten und Auslagen gestellt.)
- 02.06.2022 – H.M. u. a./. Ungarn – 38967/17: Verletzung Art. 3.und 5 wegen Inhaftierung und Behandlung einer Schwangeren und ihrer Familie in der Transitzone Tompa Die Bf., eine sechsköpfige irakische Familie, wurde zwischen dem 29.03 und 11.08.2017 vier Monate lang in der Transitzone Tompa zwischen Ungarn und Serbien festgehalten. Der Vater/Ehemann war im Irak Opfer von Folter durch die nationalen Sicherheitsdienste. Sie waren in einem Container untergebracht, den sie nur aus medizinischen Gründen verlassen durften. Die Risikoschwangerschaft der Mutter führte zu mehreren Krankenhausaufenthalten. Bei einem davon begleitete der Ehemann
sie als Dolmetscher und wurde vor den Augen der Kinder mit Handschellen gefesselt. Die Mutter litt unter psychischen und medizinischen Problemen, der Vater war Folterüberlebender, der psychiatri‐ sche oder psychologische Behandlung benötigt hätte, diese aber nicht erhielt. Sie rügten Verletzun‐ gen der Art. 3, 8, 5 Abs. 1 und 4 sowie Art. 13.
Unter Bezugnahme auf R.R. u. a. ./. Ungarn (02.03.2021 – 36037/17) und in Bezug auf die Kinder entschied der EGMR, die Bedingungen in der Transitzone seien für sie nicht angemessen gewesen, Art. 3 daher verletzt worden.
Im Gegensatz dazu hätten bezüglich der Erwachsenen die Bedingungen nicht generell die für Art. 3 erforderliche Schwelle erreicht. Zu den Beschwerden über unzureichende medizinische Versorgung der Mutter und fehlende psychologische Betreuung des Vaters: Bei der Mutter wurde die medizini‐ sche Behandlung als angemessen angesehen; allerdings erreichten ihre starken Ängste und psychi‐ schen Leiden, denen sie am Ende der Risikoschwangerschaft ausgesetzt war, die für Art. 3 erforder‐ liche Schwere. Hinsichtlich des Vaters verstießen die allgemeinen Haftbedingungen nicht gegen die Konvention. Die Verwendung von Handschellen, um ihn auf dem Weg und im Krankenhaus zu fesseln, wurde aber als nicht gerechtfertigt angesehen.
Zu Art. 5 Abs. 1 und 4 entschied der EGMR: Die Inhaftierung der Bf. war nicht rechtmäßig. Ihnen standen keine Rechtsmittel zur Verfügung, um die Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen. Er sprach der Familie Entschädigung von 12.500 EUR für immaterielle Schäden und 1.500 EUR für Verfahrens‐ kosten zu.
12. 14.06.2022 – L.B. v. Litauen – 38121/20: Verletzung Art. 2 Prot. Nr. 4 durch Verweigerung eines Reisedokuments für einen ständigen Einwohner mit subsidiärem Schutz auszustellen
Die Behörden in Litauen hatten eingeräumt, dass der Bf. nicht gefahrlos in sein Herkunftsland (Russ‐ land) zurückkehren könne. Der EGMR stellte fest, dass bei einem Ausländer, dem subsidiärer Schutz gewährt wurde und der angibt, er wage nicht, sich als subsidiär Schutzberechtigter an die Behörden seines Herkunftslandes zu wenden, davon auszugehen sei, es liege ein objektiver Grund dafür vor, dass er von diesen Behörden kein Reisedokument erhalten kann. Die litauischen Behörden hätten nicht geprüft, ob der Bf. in Anbetracht seiner persönlichen Umstände in der Lage war, von russischen Behörden einen Reisepass zu erhalten.
Der EGMR erkannte an, dass das Recht des Bf., Litauen gem. Art. 2 Protokoll Nr. 4 zu verlassen, ohne ein Reisedokument praktisch unwirksam ist. Die Weigerung, ihm einen Ausländerpass auszustellen, sei ein Eingriff in sein Recht auf Freizügigkeit. Nach EU‐Recht habe er als ständiger Einwohner Litauens das Recht, die Grenzen zwischen den EU‐Mitgliedstaaten ohne Reisedokument zu über‐ schreiten. Darüber hinaus war es ihm ohne gültiges Reisedokument aber verwehrt, in Länder außer‐ halb des Schengen‐Raums und außerhalb der EU zu reisen, darunter auch in das UK, wo seine Kinder lebten.
Der EGMR vertrat die Auffassung, dass die Weigerung, dem Bf. einen Ausländerpass auszustellen, weder gerechtfertigt noch verhältnismäßig war, da sie lediglich auf formalistischen Gründen beruhte, ohne eine angemessene Prüfung der Situation in seinem Herkunftsland erfolgte und ohne eine an‐ gemessene Bewertung der Möglichkeiten des Bf., einen russischen Pass zu erhalten (so auch: Hoti ./. Kroatien – 63311/14, §§ 119‐23, 26.04.18; Abuhmaid ./. Ukraine – 31183/13, § 122, 12.01.17). Aus diesen Gründen stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 2 Protokoll Nr. 4 fest. Litauen muss dem Bf. innerhalb von drei Monaten nach Rechtskraft des Urteils gem. Art. 44 Abs. 2 EMRK 5.000 EUR als Ersatz des immateriellen Schadens zahlen.
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- 14.06.2022 – K.N. /.UK – Nr. 28774/22: EGMR ordnet einstweilige Maßnahmen an, um drohende Abschiebung nach Ruanda zu stoppen Am 13. April 2022 schloss die britische Regierung mit der Regierung Ruandas eine Vereinbarung über eine „Asylpartnerschaft“. In deren Rahmen können Asylbewerber, deren Anträge vom UK zuvor nicht geprüft wurden, nach Ruanda „umgesiedelt“ werden. K. N., irakischer Staatsangehöriger, verließ den Irak im April 2022, reiste in die Türkei und anschlie‐ ßend quer durch Europa, bevor er mit einem Boot den Ärmelkanal überquerte. Mit der Begründung, er sei im Irak in Gefahr, beantragte er bei Ankunft im UK am 17. Mai 2022 Asyl. Am 24.05.2022 wurde ihm eine „Notice of Intent“ zugestellt, demzufolge die Behörden erwogen, seinen Asylantrag im UK als unzulässig anzusehen und ihn nach Ruanda „umzusiedeln“. Am 27.05.2022 erstellte ein Arzt im Immigration Removal Centre einen Bericht wonach K.N. möglicherweise Folteropfer war. Am 06.06.2022 erklärte die Einwanderungsbehörde den Asylantrag für unzulässig. Zugleich wurde eine Abschiebungsanordnung nach Ruanda für den 14.06.2022 zugestellt. Der High Court lehnte es ab, seinem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz stattzugeben: Ruanda werde die Vereinbarung ein‐ halten, auch wenn sie rechtlich nicht bindend sei. Die Übergangszeit werde kurz sein, die Anfech‐ tungsklage vor dem High Court voraussichtlich im Juli verhandelt werden. Hätte sie Erfolg, würde er in das UK wiederaufgenommen. Der High Court räumte ein, dass die Frage, ob die Entscheidung, Ruanda als sicheres Drittland zu behandeln, möglicherweise auf unzureichenden Nachforschungen beruhe und „schwerwiegende Fragen“ aufwerfe, die vom Gericht zu prüfen sein würden, wenn es sich mit der Begründetheit der Anfechtungsklage befasst. Am 13.06.2022 ging beim EGMR ein Antrag auf Erlass einer dringenden einstweiligen Maßnahme gegen die UK‐Regierung gem. Art. 39 VerfO ein, um die drohende Abschiebung nach Ruanda zu stop‐ pen. Der EGMR erließ die dringende einstweilige Anordnung. Seine Entscheidung nach Art. 39 VerfO sieht vor, dass der Bf. frühestens drei Wochen nach Erlass der endgültigen innerstaatlichen Entschei‐ dung im gerichtlichen Überprüfungsverfahren nach Ruanda abgeschoben werden darf. Der EGMR hat insbesondere von UNHCR geäußerten Bedenken berücksichtigt, dass Asylsuchende, die aus dem UK nach Ruanda überstellt werden, keinen Zugang zu fairen und effizienten Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft haben werden, sowie die Feststellung des High Court, dass die Frage, ob die Entscheidung, Ruanda als sicheren Drittstaat zu behandeln, „irrational“ war oder auf unzureichenden Ermittlungen beruhe und Anlass zu „ernsthaften Streitfragen“ gab. Es bestehe die Gefahr einer Behandlung, die gegen die Konventionsrechte des Bf. verstößt und, da Ruanda nicht durch die EMRK gebunden ist, es keinen rechtlich durchsetzbaren Mechanismus für die Rückkehr des Bf. in das UK auch im Falle einer erfolgreichen Anfechtung vor den inländischen Gerichten gebe. Nach dieser Entscheidung gingen beim EGMR fünf weitere Anträge auf einstweilige Maßnahmen ein. Am 15. Juni 2022 beschloss der EGMR, in zwei Fällen (R.M. /.UK – Nr. 29080/22) und H.N. ./. UK – Nr. 29084/22) ebenfalls einstweilige Maßnahmen zu erlassen, um die Abschiebung der Bf. bis 20.06.2022 auszusetzen, damit ihre Anträge eingehender geprüft werden können. Drei weitere Anträge wurden abgelehnt.
- 21.06.2022 – Akkad./. Türkei:1557/19 – Verletzung Art. 3, 5 und 13 bei Abschiebung nach Syrien Der Bf., syrischer Staatsangehöriger, lebte seit 2014 mit vorübergehendem Schutzstatus in der Türkei. Als er 2018 versuchte, nach Griechenland einzureisen, wurde er von den türkischen Behörden aufgegriffen und zwei Tage später nach Syrien abgeschoben, ohne dass er gegen diese Rückführungs‐
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entscheidung etwas unternehmen konnte. Er gab an, dass ihm und den zwölf anderen Syrern wäh‐ rend der etwa zwanzigstündigen Busfahrt paarweise Handschellen angelegt worden seien. Nach seiner Schilderung wurde er unmittelbar nach dem Grenzübertritt von zwei bewaffneten Kämpfern der Al‐Nusra‐Organisation aufgegriffen, mit verbundenen Augen verhört und geschlagen.
An der türkischen Grenze zu Syrien sei er gezwungen worden, einige Dokumente zu unterschreiben, ohne deren Inhalt zu kennen; später habe sich herausgestellt, dass eines dieser Dokumente ein For‐ mular zur freiwilligen Rückkehr gewesen sei. Er durfte nicht telefonieren, ihm wurde kein Dolmet‐ scher zur Verfügung gestellt und er hatte keine Möglichkeit, einen Anwalt oder eine Beschwerde‐ stelle zu kontaktieren. Die türkische Regierung behauptete, der Bf. sei über die Abschiebung infor‐ miert gewesen und habe freiwillig nach Syrien zurückkehren wollen.
Der EGMR entschied, dass der Bf. einer gewaltsamen Rückführung unterworfen wurde und zwei Ver‐ stöße gegen Art. 3 vorlagen. Es sei allgemein bekannt, dass das Gebiet, in das er verbracht wurde, Kriegsgebiet war. Es gebe genügend Beweise für eine reale Gefahr, dass der Bf. bei Rückführung nach Syrien einer gegen Art. 3 verstoßenden Behandlung unterworfen würde. Ferner wurden auch die türkischen Rechtsvorschriften verletzt, die vorsehen, dass ein Ausländer, dem vorübergehender Schutz gewährt wurde, nur unter außergewöhnlichen Umständen ausgewiesen werden darf, was hier nicht der Fall war. Zweitens wurde auch ein Verstoß gegen Art. 3 festgestellt, da dem Kläger während seiner Inhaftierung und Überstellung Handschellen angelegt wurden, was nicht gerechtfer‐ tigt war. Folglich war der EGMR der Ansicht, dass der Bf. einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wurde.
Zu Art. 13 i.V.m. Art. 3 entschied der EGMR, die Abschiebung nach Syrien habe nicht dem Auswei‐ sungsverfahren und den Anforderungen des türkischen Rechts entsprochen. Er sei abgeschoben wor‐ den, ohne zuvor die Möglichkeit zu haben, einen aufschiebenden Rechtsbehelf einzulegen oder die Entscheidung vor seiner Abschiebung anzufechten.
Der EGMR stellte ferner Verstöße gegen Art. 5 Absätze 1, 2, 4 und 5 fest: Dem Bf. wurde willkürlich die Freiheit entzogen; die rechtlichen Garantien wurden nicht beachtet. Er sei weder über die Gründe für seine Inhaftierung noch über die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der Inhaftierungsanordnung anzufechten, informiert worden. Vom Zeitpunkt seiner Festnahme bis zur Abschiebung nach Syrien habe er keinen Zugang zu einem Anwalt oder einer außenstehenden Person gehabt. Das habe dazu geführt, dass eine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung nicht möglich gewesen sei.
15. 30.06.2022 – A.B. u. a. /. Polen (42907/17) und A.I./. Polen (39028/17): Kollektive Abschiebung tschetschenischer Familien an der polnisch‐weißrussischen Grenze verletzt Art. 3, 13 und Art. 4 Prot. Nr. 4
Bf. sind sechs russische Staatsangehörige aus Tschetschenien, die bei mehr als zwanzig Gelegen‐ heiten gegenüber den polnischen Grenzbeamten ihre Furcht vor Verfolgung in ihrem Herkunftsland zum Ausdruck brachten und weitere acht Mal schriftliche internationalen Schutz beantragten. Nach ihren Angaben hätten Grenzschutzbeamte ihre Erklärungen und schriftlichen Anträge alle ignoriert. Es seien Verwaltungsentscheidungen erlassen worden, mit denen sie an der polnischen Grenze zu‐ rückgewiesen wurden, weil sie keine Dokumente besaßen, die ihre Einreise nach Polen erlaubte.
Zu Art. 3 akzeptierte der EGMR die Behauptungen der Kläger, es gebe keine Garantie, dass ihre Asyl‐ anträge von den belarussischen Behörden ernsthaft geprüft würden und dass ihre Rückkehr nach Tschetschenien gegen die Konvention verstoßen könnte. Die polnischen Behörden hätten die Bf. der
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Gefahr einer Kettenabschiebung und einer nach Art. 3 verbotenen Behandlung ausgesetzt, weil sie in mindestens 33 Fällen, in denen sie an der Grenze vorstellig geworden waren, kein Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes eingeleitet haben. Der EGMR hob hervor, dass ein Staat einer Person, die an einem Grenzübergang vorstellig wird und behauptet, dass sie Misshandlungen ausge‐ setzt sein könnte, wenn sie im Hoheitsgebiet des Nachbarstaates verbleibt, den Zugang zu seinem Hoheitsgebiet nicht verweigern darf, solange kein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, es sei denn, es werden angemessene Maßnahmen ergriffen, um eine solche Gefahr zu beseitigen.
Unter Bezugnahme auf unabhängige Berichte und frühere Rechtsprechung entschied der EGMR, die in den Fällen der Bf. ergangenen Entscheidungen über die Einreiseverweigerung seien nicht unter angemessener Berücksichtigung der individuellen Situation der einzelnen Kläger getroffen worden, sondern vielmehr Teil einer umfassenderen Politik Polens, die darauf abziele, Anträge auf interna‐ tionalen Schutz von Personen, die an der polnisch‐weißrussischen Grenze vorstellig wurden, nicht entgegenzunehmen und sie unter Verstoß gegen das Völkerrecht nach Weißrussland zurückzu‐ schicken. Daher liege eine kollektive Ausweisung i.S.d. Art. 4 Protokoll Nr. 4 vor. Auch hatten die Bf. keinen Zugang zu wirksamen Rechtsbehelfen mit aufschiebender Wirkung gegen ihre Ausweisung – Verletzung Art. 13.
Verletzung Art. 34: die vorläufige Maßnahme des EGMR vom 16.06.2017 enthielt die Anweisung, die Bf. nicht nach Belarus zurückzuschicken. Die polnische Regierung kam dem jedoch vorsätzlich nicht nach und wies die Bf. am Tag des Erlasses der Maßnahme und bei einer weiteren Gelegenheit vom Kontrollpunkt ab.
In A.I. u. a./. Polen, stellte der EGMR ebenfalls Verletzungen von Art. 3 und 13 sowie Art. 4 Prot. Nr. 4 fest. Der Sachverhalt ist in beiden Fällen ähnlich, abgesehen von der Entscheidung des EGMR, die einstweilige Maßnahme in der Rechtssache A.I. und andere aufzuheben, weil die Bf. in Polen inzwi‐ schen zugelassen worden waren.
16. 07.07.2022 – Safi u. a./. Griechenland – 5418/15: Verletzungen von Art. 2 und Art. 3 bei Pushback‐ Aktion der griechischen Küstenwache 2014
Verfahrensgegenstand ist eine Pushback‐Operation der griechischen Küstenwache und ein Schiff‐ bruch am 20.01.2014 in der Nähe der Insel Farmakonisi, bei der drei Frauen und acht Kinder aus Afghanistan starben. Die Flüchtlinge wurden weder an Bord des Schiffs der Küstenwache geholt, noch wurden Rettungswesten ausgeteilt. Das Flüchtlingsboot war mindestens 15 Minuten im Schlepptau der griechischen Küstenwache, zwei Beamte hatten es betreten, um das Schlepptau zu befestigen. Es war damit unter griechischer Kontrolle, bevor es sank. 16 überlebende syrische, afghanische und palästinensische Bf. machen Verletzungen der Art. 2, 3 und 13 geltend wegen schwerwiegender Unterlassungen der Küstenwache.
Der EGMR entschied, dass sowohl gegen die Verfahrensvorschriften als auch gegen die positiven Ver‐ pflichtungen verstoßen wurde, die sich aus dem Recht auf Leben gem. Art. 2 ergeben. Zum verfah‐ rensrechtlichen Aspekt wies der EGMR auf schwerwiegende Probleme bei der Auslegung hin, die während des nationalen Verfahrens nicht behandelt wurden sowie auf den fehlenden Zugang der Bf. zu wichtigen Beweismitteln. Er stellte fest, es sei höchst zweifelhaft, ob die Bf. in der Lage waren, sich angemessen am Verfahren zu beteiligen. Die nationale Staatsanwaltschaft habe offensichtliche Er‐ mittlungsmöglichkeiten nicht verfolgt, wodurch die Möglichkeit, die Umstände des Schiffbruchs zu klären, untergraben wurde. Aus dem Fehlen einer gründlichen und wirksamen Untersuchung durch die nationalen Behörden ergab sich einen Verstoß gegen die Verfahrensgarantien des Art. 2.
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Zur Verletzung der positiven Verpflichtungen nach Art. 2 vertrat der EGMR die Auffassung, dass die griechischen Behörden bei Durchführung der Operation nicht alles getan hätten, was vernünftiger‐ weise erwartet werden konnte, um das in Art. 2 geforderte Schutzniveau für die Bf. und ihre Ange‐ hörigen zu gewährleisten, insbesondere dass die Küstenwache keine zusätzliche Unterstützung oder ein geeigneteres Boot für die Rettungsaktion anforderte, als sie feststellte, dass sich das Boot in einer Notsituation befand, und dass die Behörden, wie das Koordinierungs‐ und Suchzentrum, erst sehr spät über den Vorfall informiert wurden. Die Versäumnisse und Verzögerungen bei Durchführung und Organisation der Operation veranlassten den EGMR zu urteilen, die griechische Regierung habe ihre Verpflichtungen aus Art. 2 verletzt.
Weiter stellte er eine Verletzung von Art. 3 bei 12 der Bf. fest, wobei er sich auf die Leibesvisitation unter Kontrolle des griechischen Militärs konzentrierte. Die Betroffenen seien einer Leibesvisitation auf einem Basketballplatz unter freiem Himmel unterzogen worden, mussten sich entkleiden und peinliche Körperhaltungen einnehmen vor mindestens 13 anderen Personen. Die Regierung habe weder eine Rechtfertigung noch ein legitimes Ziel für diese Leibesvisitation vorgetragen. Die Bf. hätten sich in einer äußerst verletzlichen Situation befunden, da sie gerade einen Schiffbruch über‐ lebt hatten, erschöpft und schockiert von den Ereignissen waren und sich Sorgen um das Schicksal ihrer Angehörigen machten. Die Bedingungen der Leibesvisitation habe bei den Bf. zu einem Gefühl der Willkür, Minderwertigkeit und Angst geführt, das über die unvermeidliche Demütigung einer Leibesvisitation hinausgehe. Bezüglich dieser 12 Bf. wurde Art. 3 verletzt. Griechenland muss insge‐ samt 330.000 EUR als Ersatz für den immateriellen Schaden an die Bf. zahlen.
17. Flüchtlingsrechtlich bedeutsame anhängige („kommunizierte“) Verfahren (Stand: Juli 2022)
a) A.D./. Malta – 12427/22 – übermittelt: 24. Mai 2022 (Rechtmäßigkeit der Inhaftierung eines Mdj – Art. 3, 5, 13 und 14)
Der Bf., ivorischer Staatsangehöriger, kam im November 2021 in Malta an, um als Minderjähriger Asyl zu beantragen. Ihm wurde zunächst ein Dokument ausgestellt, das seine Bewegungsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit einschränkte. Später wurde bei ihm Lungentuberkulose diagnostiziert und er wurde im Krankenhaus behandelt, bevor er in eine Haftanstalt mit erwach‐ senen Männern verlegt wurde. Er befand sich zu der Zeit in einem Altersfeststellungsverfahren, dessen erste Entscheidung zu dem Schluss kam, dass er bereits erwachsen sei. Dagegen ist ein Berufungsverfahren anhängig. Er hat die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung vor dem Court of Magistrates und dem Immigration Appeals Board angefochten und beschwert sich gem. Art. 3, 5, 13 und 14 über die unrechtmäßige Willkür seiner Inhaftierung, die damit verbundenen schlechten Lebensbedingungen und das Fehlen wirksamer Rechtsbehelfe.
b) Omarova./. Niederlande – 60074/21 übermittelt: 31. Mai 2022 – (Art. 8 – Familienleben)
Der Fall betrifft eine kirgisische Staatsangehörige, deren internationaler Schutz abgelehnt wurde und die mit einem uigurischen politischen Aktivisten verheiratet war. Die niederländischen Be‐ hörden hielten ihre Asylanträge nicht für glaubwürdig und stellten fest, dass ihr Ehemann zu ihr ziehen und in Kirgisistan ein Familienleben führen kann. Die Bf. beschwert sich über eine Ver‐ letzung von Art. 8 (Familienleben). Die Behörden hätten versäumt, einen gerechten Ausgleich zu schaffen.
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c) S. A./. Griechenland – 51688/21 übermittelt am 1. Juni 2022 (Art. 3 wegen unzureichender Lebensbedingungen und fehlender angemessener medizinischer Behandlung eines Kindes)
Eine fünfjährige syrische Staatsangehörige hatte (durch Betreuer vertreten) in Griechenland Asyl beantragt und wurde im Mavrovouni Reception and Identification Centre (RIC) auf Lesbos unter‐ gebracht. Sie beschwert sich über eine Verletzung von Art. 3 wegen unzureichender Lebensbedin‐ gungen und fehlender angemessener medizinischer Behandlung unter Berücksichtigung ihrer Ver‐ letzlichkeit als Kind und ihrer gesundheitlichen Probleme.
d) Mohamed./. Serbien – Nr. 4662/22 übermittelt am 14. Juni 2022 (Art. 3 und Art. 13 wegen rechtswidriger Auslieferung/Gefahr lebenslanger Haft)
Der Bf. ist Staatsangehöriger von Bahrain. Er gab an, aus Furcht vor Verfolgung aus seinem Land geflohen zu sein. Am 3.11.2021 wurde er in Serbien auf der Grundlage eines von Bahrain ausge‐ stellten internationalen Haftbefehls verhaftet. Der EGMR gewährte eine vorläufige Maßnahme gem Art. 39 VerfO, um seine Auslieferung an Bahrain zu stoppen; Serbien lieferte ihn jedoch unter Missachtung dieser Maßnahme trotzdem aus. Der Bf. trug vor, seine Auslieferung verletze Art. 3, da ihm eine lebenslange Haftstrafe drohe, und Art. 13, da ihm kein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf für seine Beschwerden nach Art. 3 zur Verfügung stehe und die serbischen Behörden sich geweigert hätten, seinen Asylantrag anzunehmen.
B. EuGH‐Rechtsprechung
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1. 20. Januar 2022 – C‐432/20: Österreichs Auslegung der Normen über den Verlust des Daueraufent‐ halts in RL 2003/109/EG steht nicht im Einklang mit den Zielen der RL
Der Fall betrifft einen kasachischen Staatsangehörigen, dessen Antrag auf Verlängerung seines lang‐ fristigen Aufenthaltsstatus in Österreich abgelehnt wurde. Gem. Art. 9 Abs. 1 c RL 2003/109/EG (Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen) können langfristig Aufenthaltsberechtigte ihre Aufenthaltsberechtigung nicht aufrechterhalten, wenn sie das Hoheits‐ gebiet der EU für zwölf aufeinanderfolgende Monate verlassen. Der Kläger hat das Gebiet der EU nicht für den Zeitraum eines Jahres verlassen, sondern hielt sich jeweils nur für einige Tage im Jahr dort auf. Das VG Wien stellte deswegen Fragen zur Auslegung von Art. 9 Abs. 1 c RL.
Obwohl der Begriff „Abwesenheit“ in verschiedenen Sprachfassungen der RL unterschiedlich ausge‐ legt werde, vertrat der EuGH die Auffassung, dass der Begriff, so wie er in der Vorschrift und in der Alltagssprache verwendet wird, die physische „Nichtanwesenheit“ des betreffenden langfristig Auf‐ enthaltsberechtigten im Gebiet der Union bedeute, so dass jede physische Anwesenheit geeignet sei, eine Abwesenheit zu unterbrechen. Die RL schreibe keine Anwesenheit von bestimmter Dauer oder Stabilität vor. Der EuGH hob aus den Erwägungsgründen 2, 4, 6 und 12 das Ziel der RL hervor, die Integration Drittstaatsangehöriger, die sich dauerhaft und rechtmäßig in den MS niedergelassen haben, zu gewährleisten und ihre Rechte an die der Unionsbürger anzugleichen. Dieses Ziel stütze eine Auslegung von Art. 9 Abs. 1c, wonach sich langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsange‐ hörige wie Unionsbürger außerhalb des Unionsgebiets frei bewegen und aufhalten können, solange sie nicht während des gesamten Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten abwesend
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sind. Art. 9 Abs. 1 c sei daher so auszulegen, dass jede physische Anwesenheit eines langfristig Auf‐ enthaltsberechtigten während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten, auch wenn sie einige Tage nicht überschreitet, ausreicht, um den Verlust des Rechts auf die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu verhindern.
2. 22.02.2022 – C‐483/20 – XXXX ./. Belgien (Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides): MS dürfen einem Ast., der bereits in einem anderen MS internationalen Schutz genießt, Schutz nach dem Grundsatz der Einheit der Familie gewähren
Dem Kl. wurde im Dezember 2015 in Österreich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Anfang 2016 zog er nach Belgien zu seinen beiden Töchtern, von denen eine minderjährig war. Beiden Töchtern wurde im Dezember 2016 subsidiärer Schutz zuerkannt. 2018 beantragte der Ast. internationalen Schutz in Belgien. Dieser wurde vom Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose (CGRA) mit der Begründung abgelehnt, ihm gewähre bereits ein anderer MS Schutz.
Er machte geltend, dass dieser Umstand Belgien wegen der Grundsätze der Einheit der Familie und des Kindeswohls nicht berechtige, seinen Antrag auf internationalen Schutz für unzulässig zu er‐ klären. In der Folge legte der Staatsrat dem EuGH eine Vorabentscheidungsfrage zur Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 im Lichte der Art. 7 und 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vor.
Der EuGH verwies auf die grundlegende Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den MS. Ein MS müsse (nur ausnahmsweise) nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen, einen Antrag auf internationalen Schutz nach Art. 33 Abs. 2 RL 2013/32 als unzulässig anzusehen, wenn die Person in dem MS, in dem sie bereits Schutz genießt, Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GrCharta ausgesetzt zu werden. Der Grund für den Kläger, in Belgien internationalen Schutz zu beantragen, lag nicht im Bedürfnis nach diesem Schutz, sondern darin, die Einheit seiner Familie zu gewährleisten.
Der EuGH konzentrierte sich auf Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95: Diese Bestimmung sehe zwar nicht die Ausdehnung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes auf Familienangehörige von Personen mit internationalem Schutzstatus vor, verpflichte die MS aber, dafür zu sorgen, dass Familienangehörigen von Personen mit internationalem Schutzstatus eine Reihe von (in Art. 24 bis 35 RL genannten) Leistungen gewährt werden. Er erkannte weiter an, dass die Bestimmungen der RL 2011/95 im Lichte der Art. 7 und 24 Abs. 2 und 3 GrCharta auszulegen sind. Art. 33 Abs. 2 Buchst. a sei daher so auszulegen, dass er einem MS erlaube, einer Person, die bereits in einem anderen MS Schutz genießt, diesen zu verweigern, unbeschadet der Anwendung von Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95, der der Person das Recht gibt, in diesem MS Leistungen nach den Art. 24 bis 35 RL 2011/95 zu erhalten.
3. 03.03.2022 UN ./. Spanien (Subdelegación del Gobierno en Pontevedra): Zur Auslegung der Rück‐ führungsRL und der Möglichkeit für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige, ihren Aufenthalt zu regularisieren
Richtlinie 2008/115/EG (RückführungsRL), insbes. Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 und Art. 7 Abs. 1 und 2, ist dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines MS nicht entgegensteht, wonach der illegale Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses MS, wenn keine erschwerenden Umstände vorliegen, zunächst mit einer Geldbuße geahndet wird, die mit der Auf‐
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lage verbunden ist, das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu ver‐ lassen, falls der Aufenthalt dieses Drittstaatsangehörigen nicht vor Fristablauf legalisiert wird. Nur falls der Drittstaatsangehörige seinen Aufenthalt nicht legalisiert, darf die Abschiebung angeordnet werden, sofern die genannte Frist in Einklang mit den in Art. 7 Abs. 1 und 2 RL vorgesehenen Anfor‐ derungen festgelegt wird.
4. 10.03.2022 – K. ./. Landkreis Gifhorn – C‐519/20 – Auslegung von Art. 16 und 18 RüfüRL – Abschie‐ bungshaft und Abschiebehafteinrichtungen in Deutschland
Ein pakistanischer Staatsangehöriger wurde, nachdem sein Asylantrag abgelehnt worden war, für drei Monate in der Abteilung Langenhagen der JVA Hannover inhaftiert. Die Abteilung war räumlich vom Rest der JVA getrennt, verfügte jedoch über gemeinsames Personal und gemeinsame Bereiche mit der JVA. Die Vorlagefragen des AG Hannover konzentrierten sich auf die Auslegung der Art. 16 und 18 RüfüRL, insbes. die Begriffe „spezialisierte Gewahrsamseinrichtung“ und „Notsituation“.
Der EuGH stellte klar, dass die konkrete Einrichtung grundsätzlich eine „spezielle Gewahrsams‐ einrichtung“ i.S.d. Art. 16 Abs. 1 der RüfüRL sein könne. Die nationalen Gerichte müssen bei der Ent‐ scheidung über eine Inhaftierung in einer JVA selbst prüfen, ob die nationale Rechtsvorschrift, auf‐ grund derer die Inhaftnahme erfolgt, mit Unionsrecht, insbes. den Voraussetzungen des Art. 18 RüfüRL vereinbar sei. Inhaftierung in einer regulären JVA sei nur zulässig, wenn eine außergewöhnlich hohe Zahl von Personen in speziellen Haftanstalten untergebracht sei. Die Maßnahme müsse von der Inhaftierung von Straftätern unterschieden werden. Eine „Notlage“, wie in Art. 18 RüfüRL gefordert, habe in Deutschland nicht vorgelegen.
Weiter führte der EuGH aus, die Gestaltung der Räumlichkeiten sowie Qualifikationen und Befugnisse des Personals seien zu beachten und stellte fest, dass die Mehrzahl der mit der Überwachung be‐ trauten Bediensteten über eine spezielle Ausbildung verfügt und ausschließlich der Abteilung zuge‐ ordnet ist, in der die Abschiebehaft stattfindet. Diese Abteilung der JVA könne daher als „speziali‐ sierte Gewahrsamseinrichtung“ i.S.d. Art. 16 RüfüRL angesehen werden, sofern die Gewahrsamsbe‐ dingungen nicht dem Freiheitsentzug in einem Gefängnis gleichkommen und so gestaltet sind, dass die durch die GrCharta garantierten und in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und 17 RüfüRL verankerten Grund‐ rechte gewahrt werden.
Die in Art. 18 RüfüRL vorgesehenen „Notsituationen“ ermächtigen aber die MS nicht zu einer Ab‐ weichung von allen geeigneten Maßnahmen. Vielmehr seien die Verpflichtungen der RüfüRL und strenge Garantien gegen Willkür zu gewährleisten. Art. 18 RüfüRL i.V.m. Art. 47 GrCharta sei so aus‐ zulegen, dass das nationale Gericht bei der Anordnung oder Verlängerung der Haft in einer JVA prüfen können müsse, ob die Voraussetzungen des Art. 18 RüfüRL erfüllt sind.
Zur Auslegung von Art. 16 Abs. 1 RüfüRL bei der Anwendung von Rechtsvorschriften, die eine von den Gefangenen getrennte und vorübergehende Inhaftierung in Haftanstalten zulassen, wenn die Voraussetzungen einer „Notsituation“ nach Art. 18 Abs. 1 RüfüRL nicht erfüllt sind, stellte der EuGH fest: Art. 16 RüfüRL ist sowohl restriktiv, als auch im Einklang mit dem Anwendungsbereich von Art. 18 RüfüRL so auszulegen, dass eine Inhaftierung außerhalb einer spezialisierten Anstalt nicht mehr gerechtfertigt ist, wenn deren Überlastung länger als einige Tage dauert oder sich systematisch wiederholt. Der EuGH verwies auf das Urteil El Dridi, in dem festgestellt wurde, dass die Art. 16 und 18 RückfüRL unbedingte Bestimmungen sind und hinreichend präzise, um unmittelbare Wirkung zu entfalten. Art. 16 Abs. 1 RüfüRL sei so auszulegen, dass ein nationales Gericht Rechtsvorschriften unangewendet lassen muss, die eine Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen in JVA‘s zulassen, wenn die Voraussetzungen von Art. 18 Abs. 1 und 16 Abs. 1 S. 2 RüfüRL nicht oder nicht mehr erfüllt sind.
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5. 31.03.2022 – C‐368/20 – I.A. ./. Österreich (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – BFA) zur Aus‐ legung von Art. 29 Abs. 2 Dublin‐III‐VO: Unfreiwillige Einweisung eines Asylbewerbers in ein psychiatrisches Krankenhaus ist keine Inhaftierung i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Dublin‐III‐VO
Ein marokkanischer Staatsangehöriger beantragte nach seiner Reise über Italien in Österreich Asyl. Österreich stellte ein Übernahmeersuchen und eine Abschiebungsanordnung nach Italien aus. Der Ast. wurde einen Monat nach Ablauf der Überstellungsfrist aufgrund seiner gerichtlich angeordneten Einweisung in eine psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses nach Italien überstellt. Er erhob Klage bei österreichischen Gerichten, die daraufhin das Verfahren aussetzten und Fragen im Zusam‐ menhang mit der Verlängerung der Überstellungsfrist und dem Begriff „Freiheitsentzug“ nach Art. 29 Dublin‐III‐VO dem EuGH vorlegten.
Der EuGH prüfte, ob der Begriff „Freiheitsentzug“ i.S.v. Art. 29 Abs. 2 Dublin‐III‐VO so verstanden werden könne, dass er eine von einem Gericht ausgesprochene Einweisung in eine psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses gegen den Willen des Betroffen umfasst. Die Sprachfassung der Norm könne nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dienen. Viele Sprachfassungen verwenden die Begriffe „Freiheitsentzug“ oder „Gefängnisstrafe“, während eine Minderheit weiter gefasste Begriffe verwendet (u. a. Festnahme, Gewahrsam, Freiheitsentzug). Die Mehrheit der Sprachfassungen ver‐ wende die gewöhnliche Bedeutung, die eine im Rahmen eines Strafverfahrens verhängte freiheits‐ entziehende Strafe bezeichne. Die gerichtlich angeordnete, nicht freiwillige Einweisung einer Person in eine psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses könne daher nicht als „Freiheitsentzug“ i.S.d. Art. 29 Abs. 2 eingestuft werden. Der Begriff sei eng auszulegen. Das berge nicht die Gefahr, dass Behörden auf Schwierigkeiten stoßen oder nicht in der Lage sind, das wirksame Funktionieren des Dublin‐Systems zu gewährleisten. Der Begriff „Freiheitsentzug“ sei daher nicht auf die unfreiwillige Einweisung eines Asylbewerbers in eine psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses anwendbar, die durch eine gerichtliche Entscheidung mit der Begründung genehmigt wurde, dass er aufgrund seiner psychischen Erkrankung eine Gefahr für sich selbst oder die Gesellschaft darstelle.
6. 26.04.2022 (Gr. Kammer) – C‐368/20 und C‐369/20: N.W. u. a. /. Österreich (Landespolizeidirektion Steiermark und Bezirkshauptmannschaft Leibnitz): Schengener Grenzkodex steht vorüber‐ gehender Einführung von Grenzkontrollen entgegen, wenn sie die Höchstdauer von sechs Monaten überschreiten und keine neue Gefahr besteht
Die Kläger hatte sich nach Einführung der Kontrollen an der Grenze zu Österreich zweimal geweigert, seinen Pass zu zeigen. Er erhielt deswegen eine Geldstrafe von 36 EUR. Nach seiner Meinung ver‐ stießen die Kontrollen gegen EU‐Recht.
Die erste Frage des österreichischen VG lautete, ob EU‐Recht einer innerstaatlichen Regelung ent‐ gegenstehe, die kumulativ die Wiedereinführung von Grenzkontrollen für einen Zeitraum zulässt, der die in den Art. 25 und 29 Schengener Grenzkodex festgelegte Zweijahresgrenze überschreitet, ohne dass ein entsprechender Durchführungsbeschluss des Rates vorliegt.
Der EuGH betonte, dass bei der Auslegung nicht nur der Wortlaut, sondern auch der Kontext und die Ziele der einschlägigen Rechtsvorschriften zu berücksichtigen sind. In Erwägungsgrund 27 des Kodex sei festgehalten, dass Ausnahmen und Abweichungen von der Freizügigkeit eng auszulegen sind und dass in Anbetracht der Erwägungsgründe 21 und 23 sowie des Artikels 3 EUV die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen eine Ausnahme bleiben und nur als letztes Mittel durchgeführt
werden sollte. Der Kodex füge sich in den allgemeinen Rahmen eines Raums der Freiheit, der Sicher‐ heit und des Rechts ein, der ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem freien Personenverkehr und der Notwendigkeit, die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit im Hoheitsgebiet zu schüt‐ zen, herstellen soll. Das mit der in Art. 25 Abs. 4 festgelegten Höchstdauer von sechs Monaten ver‐ folge konkrete Ziel führe das allgemeine fort. Österreich habe keine neue Bedrohung nachgewiesen, die es gerechtfertigt hätte, neue Fristen auszulösen und die Kontrollmaßnahmen, denen der Ast. unterworfen war, zu ermöglichen.
Art. 25 Abs. 4 sei dahin auszulegen, dass er der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenz‐ kontrollen an den Binnengrenzen entgegenstehe, wenn dies die Gesamthöchstdauer von sechs Monaten überschreite und keine neue Bedrohung vorliege, die eine erneute Anwendung der in Art. 25 vorgesehenen Fristen rechtfertigen würde. Art. 25 Abs. 4 stehe einer nationalen Regelung ent‐ gegen, die eine Person unter Androhung einer Strafe verpflichtet, bei Einreise in das Hoheitsgebiet dieses MS an einer Binnengrenze einen Pass oder Personalausweis vorzulegen, wenn die Wiederein‐ führung der Binnengrenze gegen diese Bestimmung verstößt. Ein Sanktionsmechanismus sei nicht mit den Bestimmungen des Schengener Grenzkodexes vereinbar. Vielmehr stehe Art. 25 Abs. 4 einer Regelung entgegen, die unter den genannten Voraussetzungen eine Pass‐ oder Ausweiskontrolle vor‐ schreibe.
Anmerkung Ho: Der Argumentation des Urteils zufolge könnten auch von Deutschland seit Jahren immer wieder verlängerten Grenzkontrollen zu Österreich rechtswidrig sein. Deutschland begrün‐ dete sie einem Dokument der EU‐Kommission zufolge mit sog. „Sekundärmigration“ von einem MS in einen anderen und mit der Situation an den EU‐Außengrenzen. Bei einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung dürfen Grenzkontrollen befristet eingeführt werden. Deutschland, Österreich und andere Staaten verlängern die Maßnahmen jedoch seit Jahren regelmäßig. In seinem Urteil weist der EuGH nun darauf hin, dass der Schengenraum eine der größten Errungenschaften der EU sei. „Die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen muss daher eine Ausnahme bleiben und sollte nur als letztes Mittel eingesetzt werden.“ Der EuGH wies darauf hin, dass Staaten solche Kontrollen nur im Fall „einer neuen ernsthaften Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder seiner inneren Sicherheit“ verlängern dürfen. „Im vorliegenden Fall scheint Österreich (…) nicht nachgewiesen zu haben, dass eine neue Bedrohung vorliegt.“ Eine abschließende Entscheidung liege jedoch beim zuständigen Gericht in Österreich.
7. 30.06.2022 – C 72/22 PPU – M.A./. Litauen – Notstandsregelungen in Litauen nicht EU‐ rechtskonform – Vorabentscheidungsersuchen des litauischen OVG
Der Drittstaatsangehörige M.A. hatte 2021 mit dem massiven Flüchtlingsstrom aus Belarus illegal die Grenze zu Litauen überquert. Wegen irregulärer Einreise und irregulärem Aufenthalt und mit der Begründung „Fluchtgefahr“ nahmen die litauischen Behörden ihn in Gewahrsam. M.A. versuchte internationalen Schutz zu beantragen. In Litauen wurde aufgrund der hohen Anzahl an Geflüchteten der Notstand ausgerufen, der illegal eingereisten Flüchtlingen verbot, Asyl zu beantragen. Gleich‐ zeitig sahen die Notstandsregelungen die Inhaftierung von Geflüchteten vor.
Der EuGH betonte, dass das Asylverfahren einen effektiven Zugang zu internationalem Schutz ge‐ währleisten muss – sowohl gem. AsylverfahrensRL als auch durch das in Art. 18 GrCharta garantierte Recht auf Asyl. EU‐Recht lasse die Inhaftierung von Asylbewerbern allein aufgrund illegaler Einreise oder illegalen Aufenthalts nicht zu. Würde einem Drittstaatsangehörigen die Möglichkeit genommen, wegen eines irregulären Aufenthalts internationalen Schutz zu beantragen, würde er daran gehin‐
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dert, das in der Charta verankerte Recht auf Asyl tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Auch nach Aus‐ rufung eines Notstandes wegen massiven Zustroms von Geflüchteten müsse es möglich bleiben, internationalen Schutz zu beantragen. Der EuGH sieht daher in der litauischen Regelung von 2021 eine Verletzung der VerfahrensRL, die in Art. 7 I das Recht auf Beantragung von internationalem Schutz für jeden geschäftsfähigen Erwachsenen vorsieht sowie eine Verletzung der Regelungen zur Inhaftierung von Asylsuchenden in der RL Aufnahmebedingungen. Die Inhaftierung i.S.d. EU‐Rechts sei beschränkt auf unbedingt notwendige Situationen, in denen nach einer individuellen Bewertung eine ernsthafte Bedrohung festgestellt werde. EU‐Recht lasse eine Inhaftierung von Asylbewerbern allein aufgrund illegaler Einreise oder illegalen Aufenthalts nicht zu. Das Urteil bezog sich auf die Schwere des Eingriffs in das Recht auf Freiheit und beschränkte somit die Inhaftierung im Sinne des EU‐Rechts auf unbedingt notwendige Situationen, in denen nach einer individuellen Bewertung eine ernsthafte Bedrohung festgestellt wird. Ein unrechtmäßiger Aufenthalt stelle keine solche Be‐ drohung für die Gesellschaft dar.
8. Schlussanträge in anhängigen Verfahren
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a) 24.03.2022 – C‐720/20: Deutschland ist für den Asylantrag eines mdj. Kindes zuständig, dessen Eltern bereits in einem anderen MS die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde (Vorlage VG Cottbus)
Die Eltern waren nach Zuerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft in Polen nach Deutschland über‐ siedelt, wo sie keinen Aufenthaltstitel besitzen. Der Ast. wurde in Deutschland geboren. In seinen Vorlagefragen möchte das VG Cottbus wissen, ob eine analoge Anwendung der Art. 20 (3) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 und Art. 33 (2) lit. a der Richtlinie 2013/32/EU möglich ist. Der GA lehnte die Analogie jedoch ab, weil sie dem Zweck der Vorschriften widerspreche: Aus Art. 3 (2) und 6 (1) Dublin‐III‐VO i.V.m. dem Grundsatz des Kindeswohles folge, dass Deutschland für den Asylantrag zuständig ist.
b) 2. Juni 2022 – C‐245/21 / C‐248/21 – Aussetzung der Dublin‐Überstellung wegen Covid‐19‐Vor‐ abentscheidungsersuchen des BVerwG zur Auslegung der Dublin‐III‐VO und den Rechtsfolgen einerer Entscheidung über die Aussetzung einer Überstellung im Zusammenhang mit der Covid‐ 19‐Pandemie
Die Verwaltung eines Mitgliedstaats hat unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, die Durchführung einer Überstellungsentscheidung nach der Dublin‐III‐Verordnung auszusetzen und damit die sechsmonatige Überstellungsfrist zu unterbrechen, sofern dies im Zusammenhang mit gegen die Überstellungsentscheidung gerichteten gerichtlichem Schutz erfolgte – so GA Pikamäe.
Das Motiv, einen Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat nach Ablauf der Sechsmonatsfrist zu verhindern, weil dieser während einer Gesundheitskrise Schwierigkeiten hat, Rücküberstellungen von Asylbewerbern in andere Mitgliedstaaten rechtzeitig durchzuführen, stellt für sich allein jedoch keinen rechtmäßigen Grund dar, eine Unterbrechung der Über‐ stellungsfrist zu rechtfertigen.
Der Fall betrifft die Entscheidung, Asylbewerber nach Italien zu überstellen, und die anschlie‐ ßende Aussetzung dieser Überstellungsentscheidung, da die Durchführung aufgrund der Pande‐ mie nicht möglich war.
Nach der Dublin‐VO soll die Überstellung „so bald wie praktisch möglich, spätestens jedoch inner‐ halb von sechs Wochen nach der stillschweigenden oder ausdrücklichen Annahme des Ersuchens durch einen anderen Mitgliedstaat (…) oder dem Zeitpunkt, zu dem der Rechtsbehelf oder die Überprüfung keine aufschiebende Wirkung mehr hat“, durchgeführt werden (Art. 27 Abs. 3). Als Rechtsfolge dieser Frist sieht die VO ausdrücklich vor, dass der Asylbewerber bei Nichteinhaltung der Frist nicht mehr in Gewahrsam genommen werden darf und der zuständige MS von seiner Verpflichtung zur Aufnahme entbunden wird; die Zuständigkeit geht dann auf den ersuchenden MS über.
GA Pikamäe: Die zuständigen nationalen Verwaltungsbehörden sind befugt, die Durchführung der Überstellungsentscheidung von Amts wegen auszusetzen, bis das Ergebnis des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung vorliegt, und folglich den Ablauf der Überstellungsfrist zu unterbrechen. Diese Bestimmung bezieht sich jedoch nur auf die Aussetzung nach Einlegung eines Rechtsbehelfs durch den Asylbewerber. Die Dublin‐VO gestattet es den MS nicht, die Überstellungsfrist aufgrund praktischer Schwierigkeiten auszusetzen und zu unterbrechen. Das Motiv, einen Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat nach Ablauf der Sechsmonatsfrist zu verhin‐ dern, weil dieser während einer Gesundheitskrise Schwierigkeiten hat, Rücküberstellungen von Asylbewerbern in andere Mitgliedstaaten rechtzeitig durchzuführen, stellt für sich allein jedoch keinen rechtmäßigen Grund dar, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist zu rechtfertigen. Die klaren Fristen werden im Interesse der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der Verfahren des GEAS für alle MS festgelegt. Eine Abweichung vom Ziel eines zügigen Verfahrens könne daher nur ausnahmsweise akzeptiert werden aus legitimen Gründen, die dem Ast. zuzurechnen sind. Die Dublin‐VO gestatte es aber MS nicht, eine Überstellung auszusetzen und den Überstellungszeit‐ raum aufgrund von Schwierigkeiten bei der rechtzeitigen Durchführung während der Covid‐19‐ Pandemie zu unterbrechen.
In Bezug auf den Rechtsbehelf oder die Überprüfung, die eine Aussetzung der Verfahren von Amts wegen und eine Unterbrechung der Fristen ermöglicht, präzisierte der GA, dass dies keine vor einem Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten einschließt und daher eine von den Verwaltungs‐ behörden selbst eingeleitete gerichtliche Überprüfung eine Unterbrechung nicht rechtfertigt und nicht dazu verwendet werden kann, eine Aussetzung geltend zu machen. Er betont, dass die Ent‐ scheidung zur Aussetzung nicht „bis auf Weiteres“ lauten kann, da dies bedeuten würde, dass die Aussetzung der Vollstreckung eines Verwaltungsakts im alleinigen Ermessen der Behörde läge und Asylbewerber für einen langen Zeitraum in einer Situation der Rechtsunsicherheit gehalten würden.
c) 02.06.2022–C66/21–O.T.E./.Niederlande–zur„Bedenkzeit“fürOpferdesMenschenhandels (RL 2004/81) – Vorabentscheidungsersuchen des Bezirksgerichts Den Haag
Der Kläger, nigerianischer Staatsangehöriger, beantragte im April 2019 internationalen Schutz in den Niederlanden, nachdem er zuvor entsprechende Anträge in Italien und Belgien gestellt hatte. Die Niederlande lehnten seinen Antrag als unzulässig ab und beantragten seine Rückübernahme nach Italien gemäß der Dublin‐VO. Bevor dem Antrag stattgegeben wurde, äußerte er den Wunsch, eine Beschwerde darüber einzureichen, dass er in Italien Opfer von Menschenhandel geworden sei. Die Beschwerde wurde aus Mangel an Beweisen zurückgewiesen. Der Kläger macht
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geltend, die Entscheidung sei rechtswidrig, da ihm gem. Art. 6 RL 2004/81 Bedenkzeit hätte ein‐ geräumt werden müssen. Die Fragen betreffen den Zusammenhang zwischen der in Art. 6 RL 2004/81 festgelegten Bedenkzeit für Opfer des Menschenhandels und der Dublin‐III‐Verordnung.
AG de La Tour prüfte zunächst, ob eine „Ausweisungsverfügung“, die während einer Bedenkzeit nach Art. 6 Abs. 2 RL ausgeschlossen ist, die Überstellung gem. Dublin‐III‐VO umfasst. Der Begriff „Ausweisung“ sei als eigenständiger Begriff des EU‐Rechts zu verstehen, da die RL keine Angaben zum geografischen Geltungsbereich der Abschiebung oder zum nationalen Recht der MS mache. Unter Bezugnahme auf den Wortlaut der RüfüRL stellte er klar, dass der Begriff „Rückführung“ sich auf die physische Überstellung eines Drittstaatsangehörigen aus dem betreffenden MS be‐ ziehe und eine „Rückführungsanordnung“ auch die Vollstreckung einer Überstellungsentschei‐ dung gemäß der Dublin‐III‐VO in einen anderen MS umfasse.
Die in Art. 6 Abs. 1 RL 2004/81 garantierte „Bedenkzeit“ betreffe die Frage, ob es MS verwehrt sei, während dieser Frist eine Überstellungsentscheidung zu erlassen, und ob eine vor Beginn dieser Frist erlassene Überstellungsentscheidung vollstreckt oder vorbereitet werden dürfe. Der EU‐Gesetzgeber verbiete es nach Art. 6 Abs. 1, während der Bedenkzeit eines Opfers des Men‐ schenhandels eine Ausweisungsanordnung zu vollstrecken. Ein MS dürfe aber einen Über‐ stellungsbeschluss oder die vorbereitenden Maßnahmen für die Durchführung dieser Über‐ stellung ohne die tatsächliche Überstellung des betreffenden Drittstaatsangehörigen während der Bedenkzeit erlassen.
Zur Frage nach Beginn und Ende der Bedenkzeit, wenn ein MS diese nicht im nationalen Recht festlegt, vertrat er die Auffassung, dass der Beginn zum Zeitpunkt, zu dem der Drittstaatsange‐ hörige gegenüber den Behörden geltend macht, dass er Opfer des Menschenhandels ist, ohne dass die Behörden irgendeinen Hinweis auf das Vorliegen oder die Art der Straftat haben, nicht mit dem persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie vereinbar wäre. Die Bedenkzeit beginne, sobald die Behörden informiert sind und Grund zur Annahme haben, dass der Drittstaatsange‐ hörige in den Anwendungsbereich der RL fällt und entsprechend über die Möglichkeiten der RL und ihre Pflichten zu informieren ist. Das Ende der Bedenkzeit sei nicht in das Ermessen des MS gestellt. Anzuwenden seien die Kriterien in Art. 6 Abs. 4. Die Norm sei eng auszulegen. MS dürften sie nicht automatisch beenden, außer in schwerwiegenden Fällen, die in Art. 6 Abs. 4 ausdrücklich genannt werden.
d) 21.06.2022 – C‐704/20 und C‐39/21: Umfassende Prüfungspflicht bei Abschiebehaft
Hintergrund sind Vorlagefragen des niederländischen Staatsrats und des Bezirksgerichts Den Haag zur richterlichen Prüfungspflicht im Rahmen der Rechtmäßigkeit von Abschiebehaft. GA de la Tour argumentiert, alle Voraussetzungen für Abschiebehaft seien zu prüfen, unabhängig von den vom Betroffenen vorgebrachten Gründen. Diese umfassende Prüfpflicht ergebe sich aus der Auslegung des sekundären Unionsrechts im Lichte der Art. 6 und 47 EU‐GrCharta. Voraussetzungen und Be‐ dingungen zur Inhaftierung Drittstaatsangehöriger würden insbes. in der RückführungsRL, der AufnahmeRL sowie der Dublin‐III‐Verordnung geregelt. Der Wesensgehalt des Rechts auf Freiheit sowie des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf wären verletzt, wenn ein Gericht nicht von Amts wegen sämtliche Haftvoraussetzungen und ‐umstände prüfen und bei etwaigen Verstößen die Freilassung anordnen dürfte. Eine Beschränkung auf die vom Betroffenen geltend gemachten Argumente sei mit diesem Effektivitätsgrundsatz nicht vereinbar.
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Zwar habe der EU‐Gesetzgeber keine gemeinsamen Regeln für den Umfang einer gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Gewahrsams festgelegt. Daher sei es Sache des jeweiligen MS, Verfahrensregeln festzulegen, sofern diese nicht gegen die Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität verstießen. Er betonte die Bedeutung der Einhaltung des in Art. 47 GrCharta garantierten Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Es würde gegen dieses Recht ver‐ stoßen, wäre ein Gericht gehindert, eine Person freizulassen, wenn es die Rechtswidrigkeit der Inhaftierung feststellt. Art. 15 der RüfüRL, Art. 9 RL Aufnahmebedingungen und Art. 28 Dublin‐III‐ VO i.V.m. Artikel 6 und 47 GrCharta seien daher so auszulegen, dass ein nationales Gericht auf Grundlage aller als relevant erachteten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte prüfen muss, ob die Voraussetzungen für Abschiebungshaft vorliegen.
Anschließend wandte sich der GA der dritten Frage in C‐39/21 zu, ob die nationale Rechts‐ und Gerichtspraxis, in der zweiten und letzten Instanz über die Rechtmäßigkeit einer Haftanordnung zu entscheiden, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Er schlug als Auslegung für Art. 15 RüfüRL i.V.m. Art. 6 und 47 GrCharta vor, dass sie einer Regelung nicht entgegenstehen, nach der ein nationales Gericht, das in zweiter und letzter Instanz über ein Rechtsmittel entscheide gegen ein erstinstanzliches Urteil, das über die Rechtmäßigkeit des Gewahrsams entschieden habe, sein Urteil verkürzt begründen könne, wenn es an Begründung und Ergebnis des erstinstanzlichen Urteils festhalte.
e) 30.06.2022 – C‐280/21: Erhebung einer Klage gegen eine mit dem korrupten Staat verbundene Person kann als politische Dissidenz angesehen werden
Der Drittstaatsangehörige P.I. beanstandete vor den Gerichten seines Herkunftslandes eine Ver‐ zögerung bei Ausführung eines Handelsvertrags gegenüber einer Person, die gute Verbindungen zu einer einflussreichen Gruppe hat. Daraufhin leitete der Staat (mit korrupten Verbindungen zu dieser Gruppe und dieser Person) ein Strafverfahren gegen ihn ein. P.I. machte geltend, seine Handlungen seien Widerstand gegen ein korruptes System. Das Gericht vertrat die Auffassung, die Weigerung, mit einem korrupten System zusammenzuarbeiten, ohne dass eine ausdrückliche Anprangerung erfolgt, sei nur dann als „politische Meinung“ anzusehen, wenn die Korruption im Land allgemein verbreitet ist und rechtliche Schritte nicht als bloße Aufforderung zur Vertragser‐ füllung angesehen werden können.
Das Gericht ersuchte um Vorabentscheidung zur Auslegung des Begriffs „politische Meinung“ i.S.v. Art. 10 AnerkennungsRL als Grund für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn diese Meinung dem Ast. vom Verfolger zugeschrieben wird: Kann die Unterdrückung des Asylbe‐ werbers durch den Staatsapparat, gegen die er sich aufgrund der im Staat weit verbreiteten Kor‐ ruption nicht rechtlich wehren kann, eine „politische Meinung“ darstellen?
Der GA hebt hervor, im Lichte aller Umstände und unter Berücksichtigung der Plausibilität dieser Zuschreibung der politischen Meinung sei zu prüfen und Art. 10 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 Aner‐ kennungsRL so auszulegen, dass die Klage einer Person zur Verteidigung ihrer Eigentumsinteres‐ sen gegen nichtstaatliche Akteure als politische Meinung angesehen werden kann, wenn die be‐ gründete Befürchtung besteht, dass diese Klage als Widerstand aufgefasst und von staatlichen Behörden als Akt politischer Dissidenz wahrgenommen werden könne, gegen den sie Vergeltungs‐ maßnahmen erwägen könnten.
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C. BVerfG – Beschlüsse vom 30.03.2022 und 20.04.2022 (2 BvR 1713/21 und 2 BvR 2069/21)
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Das BVerfG hob zwei OLG Entscheidungen auf, mit denen die Auslieferungen eines psychisch kranken Afghanen nach Schweden und eines in Italien als Flüchtling anerkannten Türken in die Türkei für zulässig erklärt worden waren: Die Entscheidungen verletzten das Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Beide OLG hätten jeweils den EuGH anrufen müssen.
Im einen Fall (2 BvR 1713/21) ging es um einen unter paranoider Schizophrenie leidenden Afghanen, gegen den in Schweden eine freiheitsentziehende Maßregel der „rechtspsychiatrischen Fürsorge“ ange‐ ordnet worden war. Er reiste im April 2019 nach Deutschland ein. Gegen ihn liegt ein schwedischer EU‐ Haftbefehl vor. Es erging ein Auslieferungshaftbefehl und nach Ablauf einer knapp einmonatigen Unter‐ bringung wurde er festgenommen. Einen Antrag auf Außervollzugsetzung des Auslieferungshaftbefehls, um in einer psychiatrischen Klinik in Deutschland stationär weiter behandelt werden zu können, lehnte das OLG ab. Nachdem sich in der JVA der Zustand des Mannes deutlich verschlechtert hatte, wurde er erneut untergebracht. Das OLG erklärte seine Auslieferung schließlich für zulässig. In der psychischen Er‐ krankung des Mannes sah es keinen Hinderungsgrund. Allerdings dürfe keine Abschiebung von Schweden nach Afghanistan erfolgen.
In dem weiteren Fall (2 BvR 2069/21) wurde ein türkischer Staatsangehöriger 2010 in Italien als Flüchtling anerkannt. Die türkischen Behörden schrieben ihn über Interpol zur Festnahme aus. Ihm wird vorgewor‐ fen, bei einer familiären Auseinandersetzung seine Mutter getötet zu haben. Ende November 2020 wurde er in Deutschland vorläufig festgenommen. Das OLG ordnete vorläufige Auslieferungshaft an. Der Mann bestreitet die Tat: Seine Strafverfolgung sei politisch motiviert, da die türkischen Behörden ihn als Kämp‐ fer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verfolgten. Deshalb habe er auch in Italien Asyl beantragt. Die tür‐ kischen Behörden erklärten in mehreren Verbalnoten u. a., dass es sich bei der zur Last gelegten Straftat um keine politische oder militärische handele und dem Bf. keine politische Verfolgung drohe. Das OLG erklärte daraufhin die Auslieferung für zulässig. Mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der italienischen Behörden im Mai 2010 sei kein generelles Auslieferungsverbot begründet worden.
Das BVerfG entschied: Die Auslieferungsentscheidungen beider OLG verletzen die Bf. in ihrem Grundrecht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Beide OLG‘s hätten nicht ohne Vorabent‐ scheidungsersuchen an den EuGH entscheiden dürfen. Im ersten Fall sei klärungsbedürftig, ob die voll‐ streckende Justizbehörde bei Anhaltspunkten für eine psychische Krankheit prüfen muss, ob durch die Überstellung die konkrete Gefahr einer (weiteren) schweren Gesundheitsschädigung droht und ob im Fall einer solchen konkreten Gefahr ein Überstellungshindernis vorliegt. Die Rechtsprechung des EuGH zu diesen entscheidungserheblichen Fragen sei unvollständig.
Im zweiten Fall sei klärungsbedürftig, ob die bestandskräftige Anerkennung des Bf. als Flüchtling in Italien für das Auslieferungsverfahren in Deutschland aufgrund der unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkon‐ formen Auslegung nationalen Rechts verbindlich ist und damit einer Auslieferung in die Türkei zwingend entgegensteht. Diese Frage sei im Schrifttum umstritten und in der EuGH‐Rechtsprechung bislang nicht geklärt. Vor diesem Hintergrund hätte sich das OLG mit den unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten von Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 der AsylverfahrensRL auseinandersetzen und näher begründen müssen, warum es von einer Vorlage an den EuGH absah. Die Gründe, aus denen das OLG von fehlender Bindungs‐ wirkung ausgehe, seien nicht nachvollziehbar.
D. Schweizer Bundesverwaltungsgericht 28.03.2022 – E‐3427/2021 – Strengere Kriterien bei Überstellungen nach Griechenland
Das schweizerische BVerwG präzisiert seine Rechtsprechung zur Zumutbarkeit des Vollzugs der „Weg‐ weisung“ (= Abschiebung) von anerkannten Schutzberechtigen nach Griechenland. Strengere Kriterien gelten bei vulnerablen Personen. Das BVGer hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, wonach der Vollzug der Wegweisung nach Griechenland für Personen, die dort einen Schutzstatus erhalten haben, grundsätzlich zulässig ist. Trotz bekannter Schwächen könne nicht von einem dysfunktionalen Aufnahme‐ system in Griechenland gesprochen werden. Es sei nicht von einer Situation auszugehen, in der jeder Person eine völkerrechtswidrige Behandlung drohe. Einschränkungen beschließt das Gericht jedoch für Familien mit Kindern, unbegleitete Minderjährige und schwer Erkrankte: Für Familien mit Kindern sind Überstellungen nur zumutbar, falls günstige Voraussetzungen oder Umstände vorliegen. Bei unbegleite‐ ten Minderjährigen und schwer Erkrankten erachtet es den Vollzug der Wegweisung als grundsätzlich unzumutbar, außer wenn besonders begünstigende Umstände vorliegen. Das Staatssekretariat für Mig‐ ration ist gehalten, in solchen Fällen vertiefte Abklärungen vorzunehmen: https://www.bvger.ch/bvger/de/home/medien/medienmitteilungen‐2022/ueberstellung‐ griechenland.html
E. Politische Entwicklungen
1. 18‐Monatsprogramm des Rates (01.01.2022 bis 30.06.2023 ‐ Frankreich, Tschechien, Schweden)
Migration, Schengen, polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit (Programm – S. 5):
„Die Strategische Agenda voranbringen – den Schengen‐Raum als Raum der Freizügigkeit ohne Bin‐ nengrenzen stärken.“ Ziele in der Migrationspolitik:
- wirksamer Schutz der Außengrenzen,
- verstärkter Schengen – Evaluierungsmechanismus,
- bessere Verwaltung,
- Migrations‐ und Asylpaket im Hinblick auf uneingeschränkt funktionierende umfassende Asyl‐ und Migrationspolitik weiterentwickeln. Zur internen Dimension sei eine Vereinbarung erforderlich, die auf einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Verantwortung und Solidarität beruhe. Der Dreiervorsitz wird
- Bemühungen unterstützen, die darauf abzielen, Todesopfer zu vermeiden und denjenigen inter‐ nationalen Schutz zu gewähren, die ihn benötigen. Er wird die Zusammenarbeit der Union mit Herkunfts‐ und Transitländern fortsetzen und vertiefen, um illegale Migration und Menschen‐ handel zu bekämpfen und wirksame Rückführungen sowie eine vollständige Umsetzung der Rück‐ übernahmeabkommen und ‐vereinbarungen zu gewährleisten, wobei er die erforderlichen Hebel einsetzen wird;
- die Zusammenarbeit mit den wichtigsten Herkunfts‐ und Transitdrittländern auf der Grundlage von Aktionsplänen verstärken, die klare Ziele und konkrete Maßnahmen auf der Grundlage der verfügbaren Instrumente und Hebel, einschließlich der finanziellen und visumpolitischen, vor‐ sehen. Die Maßnahmen müssen dazu beitragen, irreguläre Ausreisen zu verhindern, die Effizienz
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der Rückführung zu verbessern und die Kapazitäten der Drittländer zur effizienten Steuerung der
Migrationsströme und zur Bekämpfung des Menschenhandels zu stärken;
- die Schaffung einer operativen Struktur fördern, die eine wirksame Koordinierung und Steuerung gewährleistet und dafür Sorge tragen, dass bei jedem Schritt ein zufrieden stellendes Gleichge‐ wicht zwischen dem Schutz der Außengrenzen, der Verantwortung und der Solidarität besteht;
- sich darum bemühen, die Unterstützung zu ermitteln, die jenen MS, die den Schutz der Außen‐ grenzen gewährleisten, gewährt werden könnte, sowie die Mittel, die zur Verwirklichung einer einheitlichen europäischen Rückkehrpolitik, die Maßnahmen der MS unterstützen wird, erforder‐ lich sind.
2. 19.01.2022 EU‐Asylagentur („EUAA“, Sitz: Valetta/Malta, Vorläufer: EASO) nahm Arbeit auf
Die Einrichtung der Agentur der Europäischen Union für Asylfragen (EUAA) soll „einen wichtigen Schritt in der europäischen Asylpolitik“ darstellen. Die Arbeit der Agentur soll die Angleichung der nationalen Praktiken im Asylbereich, den Informationsaustausch zwischen den nationalen Behörden und eine bessere Bearbeitung von Mehrfachasylanträgen fördern, eine bessere Anwendung des europäischen Besitzstandes gewährleisten und sekundäre Migrationsbewegungen besser verhindern.
Rechtsgrundlage: Verordnung (EU) 2021/2303 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2021 – ABL 30.12.2021 DE L 468/1 über die Asylagentur der Europäischen Union und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 439/2010.
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2022 wird die Agentur EU‐Mittel in Höhe von 172 Mio. EUR erhalten und acht Maßnahmen (in Belgien, Griechenland, Italien, Lettland, Litauen, Malta, Spanien und Zypern) zur Unterstützung der Asyl‐ und Aufnahmebehörden der MS einleiten. Knapp 2.000 Mitarbeitende sollen daran mitwirken. Die Agentur ist der zweite Legislativvorschlag, der im Rahmen des Migrations‐ und Asylpakets vom September 2020 umgesetzt wird. Aufbauend auf den Erfahrungen des Europäischen Unterstützungs‐ büros für Asylfragen (EASO) soll die Agentur zu Folgendem beitragen:
- Effizientere Asylsysteme durch stärkere operative und technische Unterstützung der Mitglied‐ staaten, einschließlich Schulungen (insbesondere zu den Aufnahmebedingungen), Vorsorgemaß‐ nahmen, Informationsanalyse und Informationsaustausch.
- Bessere Unterstützung: Eine Reserve von 500 Experten (einschließlich Sachbearbeiter, Dolmet‐ scher sowie „Aufnahmespezialisten“) kann auf Ersuchen der Mitgliedstaaten als Teil der Asyl‐Un‐ terstützungsteams entsandt werden. Die Experten der Agentur werden die Aufgabe haben, das gesamte administrative Asylverfahren für die Entscheidung durch nationale Behörden vorzube‐ reiten und in der Rechtsbehelfsphase Unterstützung zu leisten.
- Einheitliche und fundierte Entscheidungsfindung durch die Entwicklung operativer Standards, Leitlinien und bewährter Verfahren für die Umsetzung des Asylrechts der Union.
- Größere Konvergenz der Anerkennungsquoten durch die Erarbeitung von Länderleitfäden zu den Herkunftsländern, die die Mitgliedstaaten bei der Prüfung von Asylanträgen berücksichtigen soll‐ ten.
- Künftige bessere Überwachung und Berichterstattung über die Asyl‐ und Aufnahmesysteme der Mitgliedstaaten, die es der Agentur ermöglichen wird, die operative und technische Anwendung des EU‐Asylrechts zu überwachen, um in vollem Einklang mit dem EU‐Recht eine einheitlichere Praxis in ganz Europa zu gewährleisten.
Die EUAA veröffentlichte am 28. Juni ihren ersten Asylbericht (https://euaa.europa.eu/publications/asylum‐report‐2022 ‐ 385 S.). Schwerpunkte sind Digitalisie‐ rung, Funktionsfähigkeit des GEAS, Auswirkungen der Covid‐19‐Pandemie auf die Asylsysteme, die Situation von Kindern und Personen mit besonderen Bedürfnissen im Asylverfahren und die Ankunft afghanischer Schutzsuchender. Aufgegriffen wird auch die Kritik von NGO’s an den Haftbedingungen für Asylbewerber im Hinblick auf Zugang zu medizinischer Versorgung, die Größe der Zellen, einge‐ schränkte Handynutzung während der Haft. Zudem Fragen von Unverhältnismäßigkeit und Willkür bei Inhaftierungen. So hatten Geflüchtete teils nur beschränkten Zugang zu Rechtsinformationen an der Grenze und in Aufnahmeeinrichtungen. In Deutschland werden seitens zivilgesellschaftlicher Or‐ ganisationen die Flughafenverfahren weiterhin aufgrund der mangelnden Zeit für den Zugang zu Rechtsinformationen und ‐beistand kritisiert. Der Bericht thematisiert auch die beim EuGH (C‐ 564/21) anhängige Vorlagefrage des VG Wiesbaden zum Umfang der Akteneinsicht.
3. 26.01.2022 – Änderungen zum Schengener Grenzkodex
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- Kapazitätsaufbau in Drittländern zur Verbesserung der Asyl‐ und Aufnahmesysteme und zur Un‐ terstützung der Neuansiedlungsregelungen der EU und der Mitgliedstaaten auf der Grundlage auf der bestehenden Zusammenarbeit mit UN‐Agenturen.
- Ein unabhängiger Grundrechtsbeauftragter und ein neuer Beschwerdemechanismus werden den Schutz der Rechte der Asylbewerber gewährleisten.
Die EU‐Kommission stellte in der Sitzung des Innenausschusses des EU‐Parlaments (LIBE) vom 26.01.2022 ihren Verordnungsvorschlag zur Änderung des Schengener Grenzkodexes sowie der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG vor:
14.12.2021 COM (2021) 891 final 2021/0428 (COD) Proposal for a REGULATION OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL amending Regulation (EU) 2016/399 on a Union Code on the rules governing the movement of persons across borders)
Handlungsbedarf sieht sie vor dem Hintergrund, dass einzelne MS u. a. im Zuge der sog. Flüchtlings‐ krise von 2015 und der Corona‐Pandemie sowie im Hinblick auf terroristische Bedrohungen erneut Grenzkontrollen eingeführt hatten bzw. haben.
(https://ec.europa.eu/home‐affairs/proposal‐regulation‐rules‐governing‐movement‐persons‐ across‐borders‐com‐2021‐891_en)
Der Vorschlag sieht insbesondere vor:
- Einführung sog. „Schutzmechanismen“,
- Regelungen zu einheitlicher Anwendung von Einreisebeschränkungen an den Außengrenzen aus Anlass von Krankheiten mit epidemischen Potenzial (Art. 21a),
- Rückführungsmechanismus in Bezug auf Drittstaatsangehörige bei grenzüberschreitender polizei‐ licher Zusammenarbeit (Art. 23a),
- Reaktionsmechanismus bei ernsthafter Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicher‐ heit in einer Vielzahl von Mitgliedstaaten (Art. 28).
4. 02.02.2022 und 10.06.2022: EU‐Rat „Justiz und Inneres“ a) informelles Treffen am 02.02.2022 – Ergebnisse
Einigung auf Schaffung eines „Schengen‐Rates“, der die Maßnahmen der MS und der EU‐ Agenturen wie Frontex effizienter steuern soll.
BMI Faeser kündigte einen „neuen Geist“ in der Asylpolitik an: das Sterben im Mittelmeer be‐ enden, die legale Zuwanderung in die EU stärken, illegale Migration zurückdrängen. Deutschland könne mit einer „Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten“ vorangehen bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Sie suche insbesondere gemeinsam mit den Franzosen einen neuen Weg. Deutschland stehe nach wie vor für ein offenes und menschliches Europa. Das wolle man gemein‐ sam mit Frankreich erreichen. An einer Koalition der Willigen bei der Flüchtlingsaufnahme werde gearbeitet. Macron hatte von zwölf Staaten gesprochen, „den Aufnahmebereiten“.
„Wir brauchen einen stärkeren, robusteren Außengrenzschutz“. Das ist die „Allianz der Vernünf‐ tigen“ (Österreichs Außenminister Karner). Gemeint waren die 16 MS, die gefordert hatten, dass Zäune und Mauern an den Außengrenzen aus dem EU‐Haushalt bezahlt werden.
Während der französischen EU‐Ratspräsidentschaft sollten Sicherheit und Schutz der Außengren‐ zen in den Vordergrund rücken. Macron warb für die Reform des Schengen‐Kodex, der neue Regeln setzen soll für den Grenzübertritt an Binnen‐ und Außengrenzen und forderte deutlich besseren Schutz der EU‐Außengrenzen sowie die systematische Kontrolle ankommender Migran‐ ten – auch, um mögliche Straftäter zu finden. Für Ausnahmesituation an den Außengrenzen wie etwa in der Belarus‐Krise forderte er einen Mechanismus, um kurzfristig Hilfe anderer Länder zu organisieren. BMI Faeser unterstützte den Vorschlag.
Frankreich hatte in einem Arbeitspapier vorgeschlagen, zunächst in drei Bereichen voranzugehen („Schritt für Schritt“): Bei der „externen Dimension“ geht es um engere Zusammenarbeit mit Her‐ kunft‐Transitstaaten, um die Migration einzudämmen. Vor allem solle die Rückführung abgelehn‐ ter Asylbewerber beschleunigt werden. Herkunftsstaaten, die sich weigern, Bürger zurückzu‐ nehmen sollen mit Visabeschränkungen sanktioniert werden. Staaten die kooperieren, sollen „be‐ lohnt“ werden mit Handelsabkommen. Geplant ist, einen „EU‐Rückführungsbeauftragten“ zu er‐ nennen.
Die EU will gemeinsame Verfahren für die Kontrolle und Registrierung an den Außengrenzen ent‐ wickeln. Frankreich will dafür die Reform der Eurodac‐VO vorantreiben. Bisher ist Eurodac nur an den EU‐Außengrenzen vorgesehen. Der Wunsch der französischen Regierung ist, es auch entlang der Binnengrenzen anzuwenden um Asylbewerber zurückzuschicken, die schon anderswo regis‐ triert sind. Der Zugriff auf die Daten soll erweitert werden. Künftig könne man auch Gesichter von Kindern ab sechs Jahren speichern. Biometrische Daten sollen – so der Wunsch einiger MS – auch erforderlichenfalls mit Zwang erhoben werden können.
Strittig war der Einstieg in das Screening‐Verfahren für Asylbewerber an den Außengrenzen: nicht nur in der Eurodac‐Datenbank sie zu registrieren, sondern zugleich zu ermitteln, wie aussichts‐ reich ihr Asylantrag ist.
Angeregt wurde, „eine kollektive Verpflichtung zu höheren Haftkapazitäten oder zumindest zur Entwicklung alternativer Mittel zur Begrenzung der Fluchtgefahr“ von Asylbewerbern als ersten Schritt einzuführen, um Griechenland oder Zypern zu helfen. Wer die verbindliche Aufnahme von Flüchtlingen ablehne, könne sich durch Zahlungen solidarisch zeigen.
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b) Ratssitzung am 10. Juni 2022 – Ergebnisse/vorläufige Vereinbarungen zu Asyl und Migration
(https://presidence‐francaise.consilium.europa.eu/de/aktuelles/schlussfolgerungen‐des‐rates‐ justiz‐und‐inneres‐inneres‐10‐june‐2022/ ; Hintergrund: https://www.consilium.europa.eu/de/policies/eu‐migration‐policy/eu‐asylum‐reform/)
Der Rat unterstützte die erste Phase des von Frankreich vorgeschlagenen „Schritt‐für‐Schritt“‐An‐ satzes im Bereich Migration und Asyl, einschließlich der Screening‐Verordnung, der Eurodac‐Ver‐ ordnung und des Solidaritätsmechanismus. Die Screening‐Verordnung sieht ein fünftägiges Screening‐Verfahren vor, das an den Grenzen der EU stattfinden soll, bevor eine Person in das Hoheitsgebiet einreisen darf (rechtlich sind sie bereits der Gerichtsbarkeit des betreffenden Staates unterstellt). Es gibt vier mögliche Entscheidungen: Eintritt in ein reguläres Asylverfahren, Asylverfahren an der Grenze, Rückkehrverfahren oder Einreiseverweigerung.
Schengener Grenzkodex: Annahme einer „allgemeinen Ausrichtung“ (Eine „allgemeine Ausrich‐ tung“ ermöglicht dem Rat, Verhandlungen mit dem EU‐Parlament aufzunehmen, sobald dieses seinen Standpunkt festgelegt haben wird): Mit der Reform sollen aus Sicht der Innenminis‐ ter*nnen
aa.) neue Instrumente „zur Bekämpfung der Instrumentalisierung von Migrationsströmen“ ein‐ geführt werden;
bb.) ein neuer Rechtsrahmen für Maßnahmen an den Außengrenzen im Falle einer Gesund‐ heitskrise geschaffen werden, wobei den Erfahrungen mit COVID‐19 Rechnung getragen wird;
cc.) derRechtsrahmenzurWiedereinführungvonKontrollenandenBinnengrenzenmodernisiert werden, um Freizügigkeit zu gewährleisten, gleichzeitig aber auf bestehende Bedrohungen zu reagieren;
dd.) alternativeMaßnahmenzudiesenKontrolleneingeführtwerden.
Kampf gegen die Instrumentalisierung von Migrationsströmen: Der Text definiert die Instrumenta‐ lisierung von Migrationsströmen als Situation, in der ein Drittland oder ein nichtstaatlicher Akteur die Bewegung von Drittstaatsangehörigen in Richtung der Außengrenzen der EU oder in einen Mit‐ gliedstaat fördert oder erleichtert, um die EU oder einen Mitgliedstaat zu destabilisieren. Es sollen neue Maßnahmen zur Bekämpfung dieses Phänomens eingeführt werden, u. a. die Begrenzung der Zahl der Grenzübergangsstellen an den Außengrenzen oder die Beschränkung ihrer Öffnungszeiten sowie die Intensivierung der Grenzüberwachung.
Maßnahmen an den Außengrenzen im Falle einer Gesundheitskrise: Bei einer Bedrohung der öffentlichen Gesundheit können rasch verbindliche Mindestvorschriften für vorübergehende Reise‐ beschränkungen an den Außengrenzen erlassen werden. So werden die Instrumente, die während der COVID‐19‐Pandemie angewandt wurden und die auf nicht verbindlichen Empfehlungen beruh‐ ten, verstärkt.
Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen: Der Text sieht strukturiertere Verfahren für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen mit stärkeren Sicherheitsvorkehrun‐ gen vor. Er berücksichtigt ein kürzlich ergangenes Urteil des EuGH (26.04.2022 (Gr. Kammer) – C‐ 368/20 und C‐369/20 – N.W. u. a. /. Österreich), in dem der Grundsatz der Freizügigkeit im Schengen‐ Raum bestätigt wurde, und legt gleichzeitig die Bedingungen für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen fest. Sollte sich bestätigen, dass Kontrollen an den Binnengrenzen auch nach zwei Jahren und sechs Monaten noch erforderlich sind, muss der betreffende MS der Kom‐ mission seine Absicht mitteilen, die Kontrollen an den Binnengrenzen weiter zu verlängern, dies be‐ gründen und den Zeitpunkt angeben, zu dem er die Kontrollen voraussichtlich aufheben wird. Die
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Kommission gibt dann eine Empfehlung ab, die sich ebenfalls auf diesen Zeitpunkt bezieht und den Grundsätzen der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit entspricht, denen der MS Rechnung tragen muss.
Förderung von Alternativmaßnahmen: Der Text aktualisiert den Schengener Grenzkodex, indem er alternative Maßnahmen zu den Kontrollen an den Binnengrenzen vorsieht. Insbesondere wird vor‐ geschlagen, einen wirksameren Rahmen für Polizeikontrollen in den Grenzregionen der MS zu orga‐ nisieren. Der Text führt dazu ein neues Verfahren ein, um gegen unerlaubte Bewegungen von irregu‐ lären Migranten innerhalb der EU vorzugehen. Im Kontext eines bilateralen Kooperationsrahmens, der auf freiwilligen Maßnahmen der betroffenen Mitgliedstaaten beruht, soll dieser Mechanismus den MS ermöglichen, Drittstaatsangehörige, die im Grenzgebiet aufgegriffen werden und sich illegal im Hoheitsgebiet aufhalten, im Rahmen der operativen grenzüberschreitenden polizeilichen Zusam‐ menarbeit an den MS zu überstellen, aus dem sie eingereist sind.
Handlungsempfehlungen zur Stärkung der Funktionsfähigkeit des Schengenraums: Dazu gehören die politische Steuerung des Schengen‐Raums, die Außen‐ und Binnengrenzen, die polizeiliche Zu‐ sammenarbeit, die JI-Informationssysteme sowie die Rückkehr‐ und die Visumpolitik. Eine VO des Rates zur Reform des Schengener Evaluierungs‐ und Überwachungsmechanismus wurde ohne Aus‐ sprache angenommen. Sie soll dazu beitragen, „den Schengen‐Raum besser an aktuelle und künftige Herausforderungen anzupassen“. Dazu soll eine „strategischere Ausrichtung des Mechanismus“, „vereinfachte und beschleunigte Evaluierungs‐ und Überwachungsverfahren“ sowie eine engere Zu‐ sammenarbeit mit allen einschlägigen Akteuren eingeführt werden.
Aus dem ECRE‐Kommentar zu diesen Ergebnissen:
Dass die tschechische Ratspräsidentschaft (im 2. Hj. 2022) absehbar nicht viel in Bezug auf den Mig‐ rationspakt unternehmen wird, gab zusätzlichen Anreiz, Vereinbarungen so abzuschließen, dass ope‐ rative und praktische Initiativen durchgeführt werden können, ohne dass große Unterstützung der Ratspräsidentschaft erforderlich wäre. Der Vorschlag zur Wiederaufnahme der RL Aufnahmebedin‐ gungen und „Resettlement“‐Vereinbarungen sieht eher nach einer Verzögerungs‐ oder Ablenkungs‐ taktik aus. Im Rahmen des „stufenweises Vorgehens“ haben sich die MS auf ihre Verhandlungsposi‐ tion gegenüber dem EU‐Parlament zu zwei der Gesetzgebungsvorschlägen geeinigt, der Screening‐ VO und der Eurodac‐VO. Im Gegenzug sind von den 26 MS 18 und weitere drei assoziierte Länder bereit, der Vereinbarung zum – freiwilligen – „Solidaritätsmechanismus“ beizutreten. Es wurden ca. 8.000 – 9.000 „resettlement“‐Zusagen gemacht, wobei Frankreich und Deutschland jeweils 3500 bei‐ steuern. Kleinere Zusagen kommen aus Luxemburg, Irland, Portugal und Belgien. Obwohl einige in der Praxis möglicherweise doch keine Umsiedlungszusagen anbieten werden, lehnten nur sechs MS dies rundweg ab – Ungarn, Polen, die Slowakei, Österreich, Lettland und Dänemark, während für bestimmte Länder, einschließlich Tschechien und Niederlande, die Umsiedlung politisch unantastbar ist, sodass sie sich finanziell beteiligen können, was ebenfalls Teil des Mechanismus ist.
Bei der Screening‐Verordnung enthielt sich die Slowakei und Ungarn. Polen stimmten dagegen, wäh‐ rend sich bei Eurodac die Slowakei und Slowenien enthielten und Ungarn dagegen stimmte. Es war schon lange klar, dass Einstimmigkeit nicht möglich sein würde, da einige MS aufgrund ihrer Anti‐ Flüchtlingspolitik auch gegen eine EU‐Asylpolitik sind.
Der „Solidaritätsmechanismus“ bleibt freiwillig. Die Unterstützung „18 + 3“ war „besser als erwartet“‐ so die zuständige EU‐Kommissarin Johannson. Intensivere Konflikte um Umsiedlungsprogramme und Solidaritätsvereinbarungen blieben aus. Die Bemühungen konzentrierten sich darauf, „Berechenbares“ zu schaffen das, wenn auch nicht dauerhaft, so doch
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zumindest für einen bestimmten Zeitraum funktioniert, statt nur Ad‐hoc‐Regelungen als Reaktion auf Krisen zu suchen.
Die MS bewahren weitgehend die negativen Elemente und schwächen Schutzmaßnahmen. Z. B. wird der ohnehin enge Anwendungsbereich des vorgeschlagenen Überwachungsmechanismus durch die Streichung von Bestimmungen zur Sicherstellung der Einhaltung der Haftvorschriften, zur Unterstüt‐ zung der MS durch die FRA bei der Entwicklung von Überwachungsmechanismen und zur Einladung relevanter nationaler, internationaler und internationaler Behörden und NGO‘s reduziert. Maßnah‐ men zu Gesundheitskontrollen und zur Bereitstellung von Informationen wurden abgeschwächt. Weitere Bestimmungen zur Inhaftierung wurden hinzugefügt, insbesondere dass die MS im nationa‐ len Recht Bestimmungen erlassen dürfen, um sicherzustellen, dass die Personen an dem bezeichne‐ ten Ort bleiben. Verpflichtungen zur Einhaltung von Maßnahmen, einschließlich der Bereitstellung biometrischer Daten für Eurodac und entsprechende Strafen für die Nichteinhaltung, wurden einge‐ führt.
Das EU‐Parlament hält bisher am „Paketansatz“ („Migrationspaket“ vom 09/2020) fest, um eine grundlegende Reform der Dublin‐III‐VO zu erreichen. Die Aufhebung von Dublin‐III und die Reform der Zuständigkeitsregeln sind in der VO über Asyl‐ und Migrationsmanagement (RAMM) enthalten. Der „Paketansatz“ bedeutet, dass Screening, Eurodac usw. nicht ohne eine Einigung über RAMM in Kraft gesetzt werden soll. Rote Linie soll im Übrigen die Streichung des Begriffs „Instrumentalisierung von Migrationsströmen“ sein. Ihn im EU‐Recht zu kodifizieren wäre ein gefährlicher Fehler, nicht nur für das Recht auf Asyl, sondern für die Rechtsstaatlichkeit insgesamt.
5. 04. März 2022: EU‐Rat aktiviert einstimmig zum vorübergehenden Schutz für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine erstmals „Massenzustrom“‐Richtlinie (2001/55/EG)
Ukrainische Staatsangehörige und Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die in der Ukraine inter‐ nationalen Schutz genießen, sowie ihre Familienangehörigen erhalten vorübergehenden Schutz, sofern sie sich vor dem oder am 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten haben. Die MS gewäh‐ ren Drittstaatsangehörigen, die sich vor dem oder am 24. Februar mit einem unbefristeten Aufent‐ haltstitel in der Ukraine aufgehalten haben und nicht sicher in ihr Herkunftsland zurückkehren können, entweder vorübergehenden Schutz oder einen angemessenen Schutz nach Maßgabe ihres einzelstaatlichen Rechts.
Darüber hinaus können die MS diesen Beschluss auf weitere Personen anwenden, z. B. Drittstaats‐ angehörige, die sich rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben und nicht sicher in ihr Herkunfts‐ land zurückkehren können, sowie auf ukrainische Staatsangehörige, die bereits kurz vor dem 24. Februar geflohen sind oder sich im Hoheitsgebiet der EU befunden haben, z. B. wegen Urlaub oder Arbeit. So soll der Druck auf die nationalen Asylsysteme verringert und den Vertriebenen ermöglicht werden, überall in der EU harmonisierte Rechte in Anspruch zu nehmen. Hierzu zählen ein Aufent‐ haltstitel, Zugang zu Arbeitsmarkt und Wohnraum, medizinische Versorgung und Zugang zu Bildung für Kinder. Der vorübergehende Schutz gilt für zunächst ein Jahr und kann automatisch um sechs Monate, höchstens jedoch um ein weiteres Jahr, verlängert werden. Die Kommission kann dem Rat vorschlagen, den vorübergehenden Schutz um ein weiteres Jahr zu verlängern. Sie kann auch vor‐ schlagen, den vorübergehenden Schutz zu beenden, wenn die Lage in der Ukraine eine sichere und dauerhafte Rückkehr erlaubt.
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Auf einem außerordentlichen Treffen des Rates am 28. März 2022 berieten die Justiz‐ und Innen‐ minister*innen über Aufnahme und Unterstützung von Geflüchteten aus der Ukraine und die bessere Koordinierung der Umsetzung der „Massenzustrom“‐Richtlinie. BMI Faeser hatte sich für verbind‐ liche Verteilungsquoten eingesetzt. Dies wurde jedoch vom Rat zu Gunsten einer Verteilung auf frei‐ williger Basis abgelehnt. Die EU‐Kommission soll nach den Vorstellungen des Rates ein auf EU‐Ebene zentralisiertes Vorgehen hinsichtlich der Hilfsmaßnahmen sowie der Registrierung ukrainischer Ge‐ flüchteter erarbeiten. In Koordination mit der französischen Ratspräsidentschaft hat die EU‐ Kommission bereits reagiert und einen 10‐Punkte‐Plan vorgelegt. Dieser sieht die Schaffung einer Solidaritätsplattform vor, mithilfe derer insbesondere eine einheitliche Registrierung der Geflüchte‐ ten und eine Koordinierung der in den einzelnen Mitgliedstaaten eingerichteten Informations‐ und Anlaufzentren erreicht werden soll. Ferner soll die Plattform die Aufnahme und Unterstützung von geflüchteten Kindern vereinheitlichen und verbessern sowie Menschenhandel vorbeugen. Weiterhin soll eine Art Belastungsindex entwickelt werden, um die Zahl der in den jeweiligen Mitgliedstaaten angekommenen Geflüchteten zu verfolgen.
6. Auswirkungen des Ukraine‐Krieges auf Dublin‐Überstellungen
Wegen der großen Anzahl Geflüchteter aus der Ukraine lehnten einige osteuropäische Staaten zeit‐ weise die (Rück‐)Übernahme von Personen ab, die im Rahmen des „Dublin‐Verfahrens“ nach dort überstellt werden sollten. Ob Dublin‐Bescheide deshalb rechtswidrig sind, ist unter deutschen VG umstritten. Einige gingen davon aus, dass entgegen § 34a Abs. 1 AsylG nicht feststehe, dass die Ab‐ schiebung durchgeführt werden könne und eine Abschiebungsanordnung deshalb rechtswidrig sei, andere gingen unter Verweis auf den Prognosespielraum des BAMF von fortbestehender Recht‐ mäßigkeit der Abschiebungsanordnungen aus. Zu Polen wurde unterschiedlich beurteilt, ob Dublin‐ Rückkehrer*innen aufgrund ausgeschöpfter Aufnahmekapazitäten dort eine unmenschliche oder er‐ niedrigende Behandlung entgegen Art. 4 GRCharta, Art. 3 EMRK drohe. Dazu: Übersichten von asyl.net Vom 1.6. und 14.07.2022:
https://www.asyl.net/view/uebersicht‐auswirkungen‐des‐ukraine‐krieges‐auf‐dublin‐ ueberstellungen
Seit 07.06.2022 ist Rumänien wieder bereit, Abschiebungen nach der Dublin‐III‐VO zu akzeptieren, Polen seit dem 01.08.2022. Ob und in welchem Umfang tatsächlich Überstellungen stattfinden werden, ist nicht absehbar. Besonders achtsam sollten diejenigen sein, deren Dublin‐Frist kurz nach dem 01.08. abläuft, da Polen explizit vorgeschlagen hat, diese Personen zuerst zu überstellen. Polen teilte mit, dass derzeit keine Corona‐Tests für eine Überstellung notwendig seien.
Aktuelle Informationen zur Rücknahmebereitschaft der Slowakei fehlen. Die Slowakei hat laut VG Würzburg (U. v. 05.04.2022) erklärt, Überstellungen im Rahmen der Dublin‐III‐VO seit 02.03.2022 nicht mehr zu akzeptieren, um den aus dem Ukrainekrieg resultierenden erheblichen Flüchtlingsbe‐ wegungen gerecht zu werden.
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- Anstieg der illegalen Grenzübertritte in der EU 2021 Die von Frontex am 11. Januar veröffentlichten Zahlen zeigen, dass die Gesamtzahl der illegalen Grenzübertritte an der EU‐Grenze im Jahr 2021 knapp unter 200.000 lag (57 % mehr als 2020). Syrer wurden am häufigsten registriert, gefolgt von Tunesiern, Marokkanern, Algeriern und Afghanen. Die Route über zentrales Mittelmeer bleibt die am häufigsten genutzte Migrationsroute.
- 24.05.2022 – Erster Bericht der EU‐Kommission über den Zustand des Schengen‐Raums Der Bericht enthält eine Liste „vorrangiger“ Maßnahmen, die 2022 und 2023 umgesetzt werden sollen. Dazu gehören eine neue IT‐Architektur und die konsequente Anwendung der Kontrolle aller Reisenden an den Außengrenzen. Die Kommission betont, dass Frontex das volle Potenzial seines Mandats erreichen muss, fordert die Annahme des überarbeiteten Schengen‐Kodex und fordert den EU‐Rat auf, Kroatien, Rumänien, Bulgarien und Zypern in den „Schengen‐Raum“ aufzunehmen, sobald der „Prozess der Schengen‐Evaluierung validiert wurde“.
- Zur Lage an den EU‐Außengrenzen Griechenland, Kroatien und Spanien, Marokko, Polen: a) Griechenland
aa) Geflüchtete als gedungene Helfer bei Pushbacks
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Eine Recherche verschiedener Medien und NGO‘s (u. a. „Der Spiegel“ und weitere deutsche und internationale Medien sowie NGO‘s wie „Lighthouse Reports“ und „Consolidated Rescue Group“) erwies Ende Juni 2022, dass in Griechenland Grenzschützer Schutzsuchende erpres‐ sen, die zuvor selbst Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen durch jene Behörden geworden sind. Reporterinnen und Reporter sprachen mit sechs Geflüchteten, die von ihrer Aufgabe als „Abschiebe‐Helfer“ für die griechische Polizei berichteten. Die Angaben konnten die Redaktionen mit Hilfe von Zeugenaussagen, Satellitenbildern, Fotos und offiziellen griechischen Behördendokumenten überprüfen. Die Flüchtlinge wurden von der griechischen Polizei als Helfer bei illegalen „Pushbacks“ an der EU‐Außengrenze eingesetzt, um Geflüchtete in die Türkei zurückzudrängen. Die griechischen Behörden hätten den Be‐ richten zufolge Geflüchtete erpresst: Wer der Polizei bei „Pushbacks“ helfe, bekomme im Gegenzug eine Aufenthaltserlaubnis für 30 Tage und die griechische Justiz würde auf eine Anklage wegen angeblichen Menschenhandels verzichten. Die Betroffenen berichten von Schlägen, sollten sie ihre Arbeit verweigern. Während ihrer erzwungenen Arbeit wurden sie von der Polizei in „Zellen“ untergebracht. Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung gab es nur unregelmäßig.
bb) GriechenlandverlängertGrenzzaunzurTürkeiundignoriertAsylverfRL
Nach Mitteilung des „Spiegel“ vom 29.05.2022 plant die griechische Regierung, im Nordosten des Landes die bestehenden 35 km Grenzzaun zur Türkei um 80 km zu verlängern und so vollständig gegen Migrantinnen und Migranten abzuriegeln, so Migrationsminister Mitarakis gegenüber dem Sender Skai. Damit seien all jene Regionen abgesichert, die sonst zu Fuß passiert werden könnten. Athen fürchtet, dass Erdoğan wie 2020 erneut MigrantInnen als Druckmittel einsetzen könne. Damals erklärte er die Grenze zu Griechenland am Fluss Evros für geöffnet und Tausende machten sich dorthin auf den Weg. Hintergrund sind aktuelle
Spannungen zwischen Athen und Ankara, die u. a. über Erdgas und Hoheitsgebiete im Mittelmeer streiten. Zuletzt hatte der türkische Präsident erklärt, der griechische Premier Mitsotakis „existiere für ihn nicht mehr“ und den Gesprächsfaden abgeschnitten.
In einem gemeinsamen Schreiben forderten 27 NGO‘s Maßnahmen der EU wegen der syste‐ matischen Nichteinhaltung der AsylverfRL durch Griechenland in Bezug auf das Konzept des sicheren Drittstaates. In einer Pressemitteilung vom 4. März berichtete die griechische Küstenwache von 120 Personen, die in fünf Fällen versucht haben, in griechische Hoheitsge‐ wässer einzudringen, wobei keiner von ihnen erfolgreich war und alle später von türkischen Behörden aufgegriffen wurden. Der Pressemitteilung zufolge waren sowohl die Küstenwache als auch die Frontex‐Kräfte vor Ort, doch gibt sie keinen Aufschluss über ihre jeweilige Rolle.
ECRE und mehrere Mitglieder gehören zu den 27 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die ein gemeinsames, von Refugee Support Aegean (RSA) verfasstes Schreiben unterzeichnet haben, in dem die EU‐Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, aufgefordert wird, „unver‐ züglich die erforderlichen Maßnahmen gegen Griechenland zu ergreifen, um die wirksame Einhaltung von Art. 38 Abs. 4 AsylverfRL sicherzustellen“. Dieser verpflichtet die MS, „sicher‐ zustellen, dass der Zugang zu einem Verfahren im Einklang mit den Grundprinzipien und Garantien gewährt wird“, wenn ein Drittland einem Antragsteller die Einreise in sein Hoheits‐ gebiet verweigert. Die Türkei hat die Drittstaatenklausel des Rückübernahmeabkommens zwischen der EU und der Türkei nie angewandt, das bilaterale Rückübernahmeprotokoll zwischen Griechenland und der Türkei im Jahr 2018 ausgesetzt und die Rückübernahmen im Rahmen der Erklärung EU‐Türkei im März 2020 ebenfalls ausgesetzt.
Die griechischen Asylbehörden stufen die Türkei jedoch als „sicheren Drittstaat“ für Antrag‐ steller aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Pakistan und Bangladesch ein: „Dies führt dazu, dass die Anträge zahlreicher Antragsteller als unzulässig abgewiesen und ihre Rückkehr in die Türkei angeordnet wird, ohne dass sie Aussicht auf eine Rückübernahme haben“. Eine von RSA im März veröffentlichte Policy Note zeigt, dass die Zahl der „Unzulässigkeitsentscheidun‐ gen – ohne eine Bewertung der Begründetheit der Anträge – auf der Grundlage des Konzepts des ‚sicheren Drittlandes‘ von 2.839 im Jahr 2020 auf 6.424 im Jahr 2021 angestiegen ist“.
b) Kroatien – Pushbacks
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NGO‘s fordern eine unabhängige und effektive Untersuchung der systematischen Zurückdrän‐ gung durch kroatische Beamte. Der Europäische Ombudsmann hatte Ende Februar festgestellt, dass die EU‐Kommission seit 2018 versäumt hat, bei EU‐finanzierten Grenzoperationen die Ach‐ tung der Rechte der Flüchtlinge seitens der kroatischen Behörden sicherzustellen. 2021 wurden mindestens 9.114 Menschen aus Kroatien zurückgewiesen, 2020 mehr als 16.400. Das Centre for Peace Studies (CMS) stellt fest: „Zahlreiche Zeugenaussagen geben einen detaillierten Überblick über das Muster, nach dem Polizeibeamte seit sechs Jahren ‚Pushbacks‘ durchführen, was es un‐ möglich macht, sie als ‚isolierte Vorfälle‘ anzusehen, wie es das kroatische Innenministerium ver‐ sucht“. NGO‘s haben Schläge, sexuelle Übergriffe, erniedrigende Handlungen und die Verweige‐ rung des Zugangs zu internationalem Schutz an den kroatischen Grenzen ausführlich dokumen‐ tiert.
Die kroatische Regierung richtete eine Überwachungsstelle ein, deren Unparteilichkeit aber frag‐ lich ist. Im Jahresbericht des sog. „Unabhängigen Mechanismus zur Überwachung der Maß‐ nahmen von Polizeibeamten des Innenministeriums im Bereich der illegalen Migration“ heißt es: „Fälle von Zwangsrückführungen irregulärer Migranten wurden nicht festgestellt …“.
Der BVMN hat seinen Balkan Regional Report für Mai 2022 veröffentlicht, der 32 Zeugnisse von „Pushbacks“ enthält, von denen 680 People‐on‐the‐move (POM) auf dem Balkan und in Griechen‐ land betroffen waren. NGO‘s fordern seit langem unabhängige und effektive Untersuchungen der systematischen Zurückweisung von Migranten und Flüchtlingen durch kroatische Beamte als Reaktion auf die Beweise für Verletzungen grundlegender Menschenrechte an den kroatischen Grenzen.
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Am 2. März forderten 18 zivilgesellschaftliche Organisationen ein Ende dieser gewaltsamen Ver‐ stöße gegen die Grundrechte. In ihrer Erklärung fordern sie unabhängige und wirksame Unter‐ suchungen, die Rechenschaftspflicht derjenigen, die für die Durchführung und Vertuschung ille‐ galer Praktiken verantwortlich sind, sowie einen unabhängigen und transparenten Grenzüber‐ wachungsmechanismus, um künftige Übergriffe zu verhindern. Die NGO‘s betonen die Notwen‐ digkeit wirksamer Grenzüberwachung, weisen aber darauf hin, dass der derzeitige Über‐ wachungsmechanismus, der auf Vereinbarungen zwischen der EU‐Kommission und dem kroati‐ schen Innenministerium beruht, nicht unabhängig ist und keinen effektiven Zugang für Geflüch‐ tete biete. Die EU‐Kommission habe „keine angemessenen Reaktionen“ auf eklatante Verstöße gegen europäisches Recht durch kroatische Behörden gezeigt. Das Versäumnis, Kroatien zu sank‐ tionieren und stattdessen weitere 122 Mio. EUR an EU‐Grenzkontrollmitteln für Kroatien zu ge‐ nehmigen, berge das Risiko einer Komplizenschaft der EU bei Verstößen.
Nach Angaben von Frontex haben irreguläre Ankünfte über die Westbalkanroute in der ersten Hälfte des Jahres 2022 deutlich zugenommen. Nach neuesten Daten wurden zwischen Januar und Mai 2022 ca. 86.420 irreguläre Einreisen an den EU‐Außengrenzen festgestellt. Bis Mai 2021 registrierte Frontex ca. 23.500 irreguläre Grenzübertritte. Die Gesamtzahl irregulärer Einreisen sei im Vergleich zu 2021 um 82 % gestiegen, was die Westbalkanroute zusammen mit den Routen über das zentrale Mittelmeer und das östliche Mittelmeer zu einer der aktivsten Migrationsrouten in die EU mache. Die meisten entdeckten Personen, überwiegend Syrer und Afghanen, seien bereits einige Zeit auf dem Westbalkan gewesen, bevor sie versuchten, in die EU einzureisen.
Die in den letzten Jahren zunehmenden Beweise und ein neu veröffentlichter Bericht des UN‐ Sonderberichterstatters für die Menschenrechte von Migranten, Morales, spiegeln die Situation für Migranten auf dem Balkan und in Mittelosteuropa wieder. 2021 war man „weiterhin mit weit verbreiteten Rückschlägen konfrontiert und „Ketten‐Pushback‐Praktiken“ an den meisten Gren‐ zen“. Der Berichterstatter verweist auf Kroatiens fortgesetzte Abschiebung von Asylsuchenden nach „Bosnien und Herzegowina und Serbien, sowohl informell als auch im Rahmen bilateraler Rückübernahmeabkommen“ sowie auf anhaltende „Pushback‐Praktiken an den Grenzen zwischen Ungarn und Serbien, Rumänien und Serbien, Serbien und Nord Mazedonien und Nord‐ mazedonien und Griechenland“.
c) SpanienundMarokko:nachTotenanderGrenzezuMelilla,engereKooperationbeiMigration vereinbart
In Melilla starben am 24. Juni 2022 mindestens 23, möglicherweise sogar 37 Menschen beim Ver‐ such, in die EU einzureisen. Bis zu 2.000 Menschen hatten gleichzeitig versucht, den Grenzzaun zur spanischen Exklave Melilla zu überwinden. Der Innenminister Spaniens lobte das Vorgehen der Sicherheitsbehörden. Spaniens Regierungschef Sánchez machte die „Menschenhändler‐ Mafia“ für die Entwicklung verantwortlich. Für Marokkos Sicherheitskräfte fand Sánchez Lob, weil sie einen „Angriff auf die territoriale Integrität des Spaniens“ abgewehrt hätten. Das UN‐ Menschenrechtsbüro und der UN‐Ausschuss für Wanderarbeitnehmer rief Spanien und Marokko
auf, die Umstände Todesfälle zu untersuchen. Die spanische Justiz eröffnete ein Ermittlungsver‐ fahren. Die Generalstaatsanwältin begründete ihre Entscheidung mit der Tragweite dessen, was sich am Grenzzaun auf marokkanischer Seite abgespielt habe. Dabei könnten Menschen‐ und Grundrechte der Migranten verletzt worden sein. Menschenrechtler hatten den Vorwurf er‐ hoben, die marokkanischen Behörden hätten „ungerechtfertigte Gewalt“ eingesetzt und Migran‐ ten misshandelt. Menschen seien stundenlang ohne medizinische Hilfe eingeschlossen auf der Erde liegen gelassen worden. Dadurch seien mehrere ums Leben gekommen.
In einer gemeinsamen Erklärung der spanischen und der marokkanischen Regierungen heißt es, man wolle nun u. a. die Kommunikation der Sicherheitsbehörden verbessern und gemischte Ein‐ satzteams schaffen. Zudem wird betont, dass Rückführung von Migranten sei ein „wesentliches Mittel zur Abschreckung“. Marokko solle finanzielle Unterstützung von der EU erhalten.
d) Polen 12.05.2022 – 60 Kilometer Befestigung an der Grenze zu Belarus fertiggestellt – zur Lage an der Grenze nach Belarus
Die polnisch‐belarussische Grenze ist 418 Kilometer lang, davon verlaufen 186 Kilometer über Land, der Rest durch Seen und Flüsse. Die Landgrenze war zunächst mit Zäunen abgeriegelt worden. Nun soll eine Mauer dafür sorgen, dass keine Geflüchteten durchkommen. Die Bauarbei‐ ten würden Ende Juni abgeschlossen sein, teilte der Grenzschutz mit. Laut Süddeutscher Zeitung ist die Mauer aus Stahl, viereinhalb Meter hoch, gekrönt von einem weiteren Meter Stacheldraht – rund 350 Mio. EUR wurden ausgegeben. Der polnische Ministerpräsident bezeichnete sie als „Ausdruck unserer Leistungsfähigkeit, Zeugnis unseres Verantwortungsbewusstseins, unserer Umsicht und Weitsicht“ und als „Teil des Kampfes gegen Russland. ”
Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes wurden bis Ende 2021 fast 40.000 Menschen nach Weißrussland „zurückgeführt“. Am 1. Juli 2022 hat Polen seine unzugängliche Grenzzone abge‐ schafft. Dort starben mindestens 20 Menschen im Winter, 187 weitere sind unauffindbar ver‐ schwunden.
Angesichts anhaltender Grundrechtsverletzungen hat ein polnisches Gericht entschieden, dass Zurückweisungen von Asylbewerbern rechtswidrig sind. Das Urteil betrifft einen Syrer, der in Polen in ein Krankenhaus eingeliefert und dann an die weißrussische Grenze zurückgeschickt wurde. Das Urteil stellt fest, dass er gehindert wurde, in Polen Asyl zu beantragen, nach Weiß‐ russland zurückgedrängt wurde und dort verschiedenen Formen von Menschenrechtsverletzun‐ gen ausgesetzt war.
Yana Gospodinova – Referentin für Migration und Flüchtlinge Deutscher Caritasverband berich‐ tete am 04.05.2022 zu Schutzsuchenden an der polnisch‐belarussischen Grenze:
„Die Lage an der belarussischen Grenze bleibt dramatisch. Da sich der allgemeine Fokus auf die Situation in der Ukraine verlagert hat, kommt es noch häufiger zu Zurückweisungen (Grupa Granica berichtet von einer kurdischen Familie, die insgesamt 25 Mal zurückgedrängt wurde). Aufgrund des eingeschränkten Zugangs zur Sperrzone (no‐go‐area) ist es nach wie vor schwierig, Menschen direkt zu helfen. Organisationen erreichen Schätzungen zufolge nur ca. die Hälfte aller Schutzsuchenden, um sie zumindest mit Wasser, Lebensmittel etc. zu versorgen.
Ende März wurde das provisorische Lager in Bruzgi (auf der belarussischen Seite) geschlossen. Zu diesem Zeitpunkt waren nicht mehr viele Menschen dort. Diejenigen, die geblieben waren, waren oft Menschen mit Behinderungen und/oder gesundheitlichen Komplikationen sowie Schwangere, denen die Rückreise nicht gelang. … Immer mehr Personen werden ins Krankenhaus eingeliefert,
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sobald Grenzschutzbeamte entschieden haben, ihre Asylanträge anzunehmen. Zwischen dem 12. und 18. April registrierte z. B. Dom Otwarty Hilferufe von 180 Menschen, darunter 36 Kinder. Ca. 2.000 Personen befanden sich noch an der Grenze. Es gibt Berichte über zunehmende Gewalt auf der belarussischen Seite, einschließlich sexualisierter Gewalt. Außerdem hat man Berichte über bis zu 3.000 „neue“ Flüchtlinge (hauptsächlich aus dem Irak und Syrien) erhalten, die in Grodno und Minsk darauf warten, … einen Grenzübertrittsversuch zu starten. Während es keine Direkt‐ flüge nach Belarus mehr gibt, ist die Route über Moskau nach wie vor aktiv.
Die Fokusverschiebung auf die Ukraine hatte ebenfalls zur Folge, dass die polnische Seite noch feindseliger ggü. Aktivistinnen an der Grenze auftritt. Fünf Personen drohen Strafanzeigen wegen angeblicher Beihilfe zum Menschenschmuggel. Bisher haben Gerichte Anträge der Staatsanwalt‐ schaft auf vorläufige Festnahme abgelehnt. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft scheint aber eine gewisse Abschreckungswirkung zu entfalten. Menschenrechtsanwält_innen verzeichnen ins‐ gesamt weniger Freiwillige, die ins Grenzgebiet zu kommen um zu helfen. Es ist eine Sache, eine Geldstrafe von 500 PLN (knapp über 100 EUR) zu riskieren, eine andere – für mehrere Monate in Haft zu kommen (die vorläufige Festnahme dauert normalerweise 3 Monate, kann aber verlängert werden, bis die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vorgelegt hat).
Aus meiner Sicht hat die oben erwähnte Abnahme der freiwilligen Helfer*innen an der belarussi‐ schen Grenze auch mit der insgesamt enormen Auslastung (Überlastung) ehrenamtlicher Struk‐ turen in Polen seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine zu tun. Die Situation in den geschlossenen Lagern auf der polnischen Seite ist in den letzten Monaten leider auch nicht besser geworden. Während derzeit weniger Menschen in Haft sind (im Januar ca. 1.500 Personen, davon ca. 25 % Kinder), ist die Haftzeit viel länger. Kürzlich gab es einen Hungerstreik im Lager in Lesznowola, wo 5 Syrer dagegen protestierten, fast ein halbes Jahr in einer gefängnisähnlichen Einrichtung fest‐ gehalten zu werden (sie überquerten die Grenze im Dezember und hatten Pässe dabei). Es be‐ durfte eines erhöhten Mediendrucks und der Intervention eines Mitglieds des polnischen Parla‐ ments, um zu einer Lösung zu kommen. Die polnischen Behörden behaupten, dass Menschen nach ihrer Freilassung nicht in Polen bleiben, sondern in andere EU‐Länder weiterziehen. Aus Sicht von Dom Otwarty stimmt das, denn nach der erniedrigenden Behandlung an der Grenze sehen viele Polen nicht mehr als sicheres Land. Allerdings spielen Faktoren wie familiäre Bindungen, In‐ tegrationschancen, Aufnahmesysteme im Ausland etc. ebenfalls eine Rolle bei der Weiterwande‐ rung“.
e) Zentrales Mittelmeer: Rettungsaktionen und Zahl der Todesopfer steigen weiter an
Am 20. Juni (Weltflüchtlingstag) hat die tunesische Küstenwache die Leichen von vier Menschen nach einem Schiffbruch vor der Küste von Sfax City geborgen. Weitere 12 bereits verwesende Leichen – von denen angenommen wird, dass sie bei einem Versuch von Afrikanern aus Subsahara/Afrika, Italien von Libyen aus zu erreichen, gestorben sind –, waren am Wochenende in derselben Gegend gefunden worden, was die Gesamtzahl auf 16 Todesfälle erhöht. Nach An‐ gaben von IOM waren bis zum 18. Juni 2022 ca.715 Menschen im zentralen Mittelmeer gestorben oder verschwunden.
Zivile Such‐ und Rettungskräfte haben in Mai und Juni fast 900 Menschen im Mittelmeer gerettet, mussten aber erneut lange auf die Erlaubnis warten, Überlebende von Bord bringen zu dürfen. Nach einer Reihe von Rettungsaktionen hatte Sea‐Watch 4 insgesamt 313 Überlebende an Bord. Laut Sea‐Watch International wurden Überlebende „gemeinsam von der zivilen Flotte gerettet, unterstützt aus der Luft von dem Flugzeug Seabird – während die EU‐Staaten untätig blieben“.
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Ebenfalls am 21. Juni berichtete Sea‐Eye 4 über insgesamt 476 Überlebende an Bord, darunter 66 Kinder – Krankheiten, Mangel an Betten und an Hitzeschutz. Am 22. Juni veröffentlichte Sea Eye eine Erklärung nachdem die italienischen Behörden den Überlebenden die Erlaubnis zum Aus‐ schiffen erteilt hatten: „Das unnötige Warten auf Sicherheit ist für 588 Flüchtlinge vorbei, aber die Behörden haben für 312 andere zu verantworten, dass sich ihre Gesundheit auf See ver‐ schlechtert hat“. Italien registrierte bis Ende Juli ca. 42.000 Ankünfte von Geflüchteten, 2021 waren es im gesamten Jahr 30.000. NGO’s, die in der Seenotrettung aktiv sind, fordern ein von der EU den Einsatz einer angemessenen, staatlich geführten und proaktiven Flotte zur Seenotrettung.
Die Regierung der Republik Zypern behauptet, in den ersten fünf Monaten 2022 hätten dort ca. 10.000 Menschen Asyl beantragt, eine Verdopplung gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2021.
Malta wendet weiterhin Abschreckungstaktiken an, indem es nicht auf Notrufe reagiert und die Ausschiffung verweigert. „Die Regierung weigert sich zu erklären, warum sie auf See ausgesetzt werden, entweder nicht gerettet werden oder nicht sicher von Bord gehen dürfen“, erklärte der Malta Refugee Council am 20. Juni und forderte die Behörden auf, den Dialog über Migrationsge‐ setze und ‐praktiken wiederaufzunehmen. Der Rat wies auf ein „extrem feindseliges Umfeld für Flüchtlinge“ auf Malta hin: „Hunderte werden unter erbärmlichen Bedingungen und aus zweifel‐ haften rechtlichen Gründen in Haft gehalten, was internationale NGO‘s als „institutionelle Mas‐ senvernachlässigung“ bezeichneten. Neue Haftregeln schränken ihre Möglichkeiten, Informatio‐ nen und Unterstützung zu erhalten, dramatisch ein.“ Malta verzeichnete einen Rückgang von 63 % irreguläre Ankünfte auf dem Seeweg im Jahr 2021 und ein Rückgang der bei der International Protection Agency (IPA) gestellten Asylanträge um 38,9 %.
Ein Anstieg der Ankünfte aus Libyen seit Juni 2018 veranlasste die maltesischen Behörden, ein Abkommen mit der „libyschen Regierung“ (?) zu unterzeichnen, das sich auf die sogenannte liby‐ sche Küstenwache verließ, um Migranten abzufangen, zu „retten“ und nach Libyen zurückzu‐ schicken, „auch wenn sich die Migranten eindeutig innerhalb des maltesischen SRR in Not befin‐ den“, erklärte Katrine Camilleri, Direktorin des Jesuiten‐Flüchtlingsdienstes in Malta. Papst Franziskus erinnerte an die Reise des heiligen Paulus, den Malta auf seinem Weg nach Rom auf‐ genommen hatte, nachdem er Schiffbruch erlitten hatte, und betonte, dass Malta nun „noch mehr verpflichtet ist, so viele Brüder und Schwestern aufzunehmen, die Zuflucht suchen“.
In einem neuen Bericht forderte Médecins Sans Frontières (MSF) Ende Juni 2022, sichere Wege für gefährdete Migranten, die in Libyen festsitzen und erklärt: „Der Mangel an Schutz und Stabi‐ lität erklärt teilweise den Menschenhandel im industriellen Maßstab. Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende, die über irreguläre Landwege nach Libyen einreisen, werden häufig von Menschen‐ händlern festgehalten und gefoltert, um Lösegelder zu erpressen, monatelang und oft länger als ein Jahr. Ein Migrant in Libyen zu sein bedeutet, zu riskieren, verhaftet zu werden, ohne Rückgriff auf ein Rechtssystem, und dann in einem „offiziellen“ Internierungslager festgehalten oder an ein Menschenhandelsnetzwerk verkauft und potenziell extremer Gewalt ausgesetzt zu werden. In einem solchen Kontext einen sinnvollen Schutz zu bieten, wird praktisch unmöglich.“ IOM‐ Statistiken zeigen, dass 2022 bisher 8.860 Menschen abgefangen und nach Libyen zurückgebracht wurden.
Inzwischen sind auf der Atlantikroute weitere Menschen ums Leben gekommen. Am 27. Juni ken‐ terte ein Boot mit mindestens 140 Menschen, das die spanischen Kanarischen Inseln erreichen wollte, vor der Küste Senegals, nachdem an Bord ein Feuer ausgebrochen war. Nach Angaben von
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Beamten des örtlichen Roten Kreuzes verloren mindestens 13 Menschen ihr Leben. Am selben Tag retteten spanische Retter von Salvamento Marítimo 106 Menschen, darunter sechs Kinder, vor den Kanarischen Inseln – eine Person war während der Überfahrt bei einem Sturz über Bord gestorben. Bei einem dritten Vorfall am 27. Juni wurden weitere 110 Menschen auf hoher See vor der Insel Fuerteventura gerettet. Am 4. Juli wurden 39 Menschen nach neun Tagen auf See vor Gran Canaria gerettet – 19 von ihnen mussten in Krankenhäuser gebracht werden. Nach Angaben des Innenministeriums verzeichneten die Kanarischen Inseln zwischen Januar und Juni 2022 ca.8.741 irreguläre Ankünfte, was einem Anstieg von 25 Prozent gegenüber dem gleichen Zeit‐ raum 2021 entspricht. Nach Angaben von IOM kamen 2022 bisher 311 Menschen auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln ums Leben.
Schlussbemerkung
UN‐Flüchtlingskommissar Grandi erklärte am 23. Mai 2022, die Zahl der Menschen, die gezwungen seien, vor Kriegen, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu fliehen, habe zum ersten Mal die 100‐Millionen‐ Marke überschritten. Die Zahl umfasse Flüchtlinge, Asylsuchende und 53,2 Millionen Binnenvertriebene.
Ja, es stimmt: Die EU hat bezüglich ukrainischer Kriegsflüchtlinge sehr beachtliche Hilfsbereitschaft ge‐ zeigt, sowohl durch die sehr kurzfristig eingeleitete „Aktivierung“ der Bestimmungen der Massenzu‐ stromRL und Bereitstellung erheblicher Mittel für die Versorgung, aber auch – und das gilt nicht nur, aber insbesondere für Polen – für die Aufnahmebereitschaft. Eine sehr positive Ausnahme.
Aber bitte keine Hoffnung auf mehr, etwa die Anwendung dieser liberalen Aufnahmepolitik auf alle Flüchtlinge, die an den Außengrenzen der EU anklopfen: Die erstaunliche Aufnahmebereitschaft gegen‐ über ukrainischen Kriegsflüchtlingen ist und bleibt leider durchaus keine „Blaupause“ für die Flüchtlings‐ politik der EU insgesamt. Im Gegenteil: Die Pushbacks an den Außengrenzen (Kroatien, Griechenland, Polen) gehen weiter wie schon seit Jahren. Daran hat auch die Rechtsprechung des EGMR bislang nichts geändert. Die Schwierigkeiten bei der Aufnahme von schiffbrüchigen Flüchtlingen bleiben bestehen. Die Überlegungen/Vorschläge des EU‐Rates der Innen‐ und Justizminister zur „Reform“ des „gemeinsamen europäischen Asylsystems“ weisen nur in eine Richtung, die lautet: Restriktionen, Restriktionen, Restrik‐ tionen. Nichts blieb vom „humanitären Ansatz“, den BMI Faeser zunächst in Aussicht stellte. Selbst der „Solidaritätsmechanismus“, der neue Begriff für Verteilungsregel, konnte in der Ministerrunde nur mehr‐ heitlich verabschiedet werden, weil ausdrücklich Freiwilligkeit seine Grundlage ist.
Kurz und schlecht: nichts Neues in der EU‐Flüchtlingspolitik. Ja, man kann schon froh darüber sein, dass der „Fortschritt“ und der Reformeifer im europäischen Rat ebenso wie auf nationaler Ebene sich eher als Aktivität im Schneckentempo darstellen – die vorgeschlagenen Umsetzungen und Neufassungen von Nor‐ men wären schlimmer als noch 2013. Sicher ist die Rolle des europäischen Parlaments in diesem politi‐ schen Prozess nicht unerheblich – nur ist es in der Migrationspolitik bisher leider auch völlig zerstritten. Und: Von den dänischen Bemühungen, dort ankommende Flüchtlinge in afrikanische Länder (genannt wurden Ägypten, Tunesien, Ruanda und Äthiopien) zu verbringen, um dort die Asylverfahren durchzufüh‐ ren, hört und liest man nichts mehr. Ein entsprechendes Abkommen Großbritanniens mit Ruanda wurde im April 2022 geschlossen, der EGMR hat jedoch die Durchführung des ersten Fluges verhindert durch eine vorläufige Maßnahme – an die sich Großbritannien immerhin gehalten hat. Mehrheitlich pflegen Staaten solche vorläufigen Maßnahmen nach Art. 39 Verfahrensordnung des EGMR inzwischen zu igno‐ rieren, besonders häufige Beispiele dafür sind Polen, Ungarn und Frankreich.
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Die EU‐Innenminister*innen wollen die Unionsbürger*innen vor dem Ansturm von Flüchtlingen aus aller Welt schützen. Ich bin einer dieser Bürger, zumal einer, der nicht ganz wenig Steuern zahlt, mit denen auch die Projekte der EU finanziert werden. Und ich erkläre ausdrücklich: Ich will nicht in dieser Weise geschützt werden. Im Gegenteil: Ich lege mein ganz entschiedenes Veto ein – es wird leider nur niemand darauf hören.
Prof. Dr. Holger Hoffmann