Bericht 2022/2

Download als PDF-Datei

Prof. Dr. jur. Holger Hoffmann

(für evt. Rückfragen: holger.hoffmann@fh‐bielefeld.de)

Europäische Entwicklungen im Flüchtlingsrecht – August bis Dezember 2022

Inhaltsübersicht

(Die Seitenzahlen beziehen sich auf die PDF-Datei)

A. EGMR – Rechtsprechung 4

I. Hinweise 4

  1. Russland nicht mehr durch EMRK gebunden 4
  2. Aktualisierter Leitfaden zur Rechtsprechung des EGMR in Einwanderungsfragen 4
  3. Neue Präsidentin des EGMR 4
  4. „Rule 39 Site“ 4

II. Urteile 4

  1. 30.08.2022 ‐ 49857/20 – R. ./. Frankreich: Art. 3 verletzt wegen unzureichender 4 Risikobewertung vor der Abschiebung eines Flüchtlings nach Tschetschenien
  2. 30.08.2022 – 1348/21 – W. ./. Frankreich: Art. 3 verletzt wegen Vollstreckung einer 5 Abschiebungsanordnung gegen einen russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft
  3. 31.08.2022 – 32891/22 – A.N. ./. Schweden: Art. 3 verletzt wegen geplanter 5 Abschiebung nach Syrien
  4. 15.09.2022 – 18603/12 – O.M. und D.S. ./. Ukraine: Art. 3 und 34 verletzt wegen 5 Misshandlung kirgisischer Asylsuchender am Flughafen Kiew
  5. 27.09.2022 – 18339/19 – Otite ./. UK: Art. 8 nicht verletzt bei Ausweisung nach 6 strafrechtlicher Verurteilung wegen (schweren) Betruges
  6. 06.10.2022 – 9264/15 – B.Ü. ./. Tschechien: Art. 3 nicht verletzt wegen angeblich 6 „unzureichender“ Untersuchung der Misshandlung eines Asylbewerbers während
    der Haft
  7. 06.10.2022 – 37610/18 – Liu ./. Polen: Art. 3 verletzt im Falle einer Auslieferung 7 an China
  8. 06.10.2022 – 18207/21 – S. ./. Frankreich: Art. 3 verletzt, wenn Bf. ohne angemessene 7 Ex‐nunc‐Bewertung der Situation nach Russland abgeschoben wird
  9. 13.10.2022 – 41764/17 – T.Z. u. a. ./. Polen: Art. 3 und Art. 4 Prot. Nr. 4 verletzt wegen 7 kollektiver Ausweisung nach Weißrussland und ernsthafter Gefahr von Kettenab‐
    schiebung und Misshandlung
  10. 20.10.2022 – 22105/18 – M.T. u. a. ./. Schweden: Art. 8 nicht verletzt wegen 8 3‐Jahresfrist für Familienzusammenführung bei subsidiär Schutzberechtigten
  11. 31.10.2022 – 49255/22 – Camara ./. Belgien: einstweilige Maßnahme gem. 9 Art. 39 VerfO wegen Unterbringung und Gewährung von Sozialleistungen

Seite

  1. 03.11.2022 – 22854/20 – Sanchez‐Sanchez ./. UK: Art. 3 nicht verletzt bei 9 Auslieferung eines straftatverdächtigen Mexikaners vom UK an die USA
    (Gr. Kammer)
  2. 08.12.2022 – 34349/18, 34638/18 und 35047/18 – M.K. u. a. ./. Frankreich: 9 Art. 6 Abs. 1 verletzt wegen Nichtbefolgung einstweiliger Maßnahmen zur
    Vergabe einer Notunterkunft
  3. 15.12.2022 – 64050/16, 64558/16, 66064/16 – W.A. u .a. ./. Ungarn: Art. 3 11 verletzt wegen unzureichender Bewertung der Risiken einer Rückführung von Drittstaatsangehörigen nach Serbien
  4. 20.12.2022 – 37241/21 – S.H. v. Malta: Art. 3 und 13 verletzt wegen 11 unzureichender Verfahren zum internationalen Schutz

III. EGMR – typische Auslegungsmuster des Verhältnismäßigkeitprinzips 11 (Urteile 2020 – 2022)

B. EuGHRechtsprechung 13

  1. 01.08.2022 – C‐720/20: Zur Asylzuständigkeit bei „nachgeborenen Kindern“ 13 (Vorabentscheidung – Vorlage VG Cottbus)
  2. 01.08.2022 – C 19/21 – I. und S. ./. NL: Ein unbegleitetes Kind hat das Recht auf 13 einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Aufnahmeantrags
    im Rahmen des Dublin‐Systems (Vorabentscheidungsersuchen Rechtbank Den Haag)
  3. 01.08.2022 – C‐422/21 – TO. ./. Italien (Innenministerium): Antragsteller auf 14 internationalen Schutz dürfen nicht mit Entzug aller materiellen Aufnahmebe‐
    dingungen sanktioniert werden, wenn sie dadurch ihrer elementarsten Bedürfnisse
    beraubt werden
  4. 01.08.2022 – SW (C‐273/20), BL, BC (C‐355/20) und XC (C‐279/20) ./. Deutschland: 14 Familienzusammenführung mit (ehemals) minderjährigem Kind
  5. 07.09.2022 – C‐624/20 – E.K. /. Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (NL): 16 Voraussetzungen für die Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigte/r
  6. 22.09.2022 – C‐497/21 – T.L., N.D., V.H., Y.T. und H.N. /. Deutschland: Kein
    unzulässiger Folgeantrag bei früherem Asylverfahren in Dänemark 17 (Vorabentscheidungsersuchen VG Schleswig‐Holstein)
  7. 22.09.2022 – C 245/21 und C 248/21 – Überstellungsfrist nach Dublin‐III wird nicht 17 wegen COVID‐19‐Pandemie unterbrochen (Vorabentscheidungsersuchen –
    BVerwG, B. v. 26.01.2021 – 1 C 52.20)
  8. 06.10.2022 – C‐241/2 – I.L. /. Estland: RückführungsRL erlaubt keine Inhaftierung 18 von Drittstaatsangehörigen ohne klare Rechtsgrundlage
  9. 22.09.2022 C‐159/21 – GM. ./. Ungarn: Keine pauschale Aberkennung internationalen 18 Schutzes aus Gründen der nationalen Sicherheit
  10. 20.10.2022 (C‐825/21) – UP. ./.Belgien: RückführungsRL steht nationalen Normen 19 nicht entgegen, nach denen ein Bleiberecht die stillschweigende Rücknahme einer Rückführungsentscheidung zur Folge hat
  11. 08.11.2022 – C 704/20 und C 39/21: C und B. ./. Niederlande: Zum Prüfungsumfang 19 bei den Voraussetzungen von Abschiebungshaft (Vorabentscheidungsersuchen
    NL – Gr. Kammer)
  12. 17.11.2022 – C 230/21 – X. ./. Belgien: Zur Auslegung von Art. 2 Buchst. f. und 20 Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL Familienzusammenführung (2003/86/EG)

2

  1. 22.11.2022 – C‐69/21 – X. ./. Niederlande: Zu den Voraussetzungen der Abschiebung 20 bei lebensbedrohlicher Erkrankung
  2. 01.12.2022 – C‐564/21 – B.U. ./. Deutschland: Zu den Voraussetzungen einer 21 wirksamen elektronischen Übermittlung der Asylakte
  3. 22.12.2022 – C‐237/21 – Zu den Voraussetzungen der Auslieferung eines 22 Unionsbürgers an einen Drittstaat zum Strafvollzug

C. Politische Entwicklungen 22

  1. Diskussionen und Entscheidungen auf EUEbene 22
    1. EU‐Kommission: Migrations‐ und Asylbericht 2022 – 06.10.2022 22
    2. „Dringlichkeitssitzung“ der Innenminister der EU‐Staaten – 25.11.2022 23
    3. Westbalkanroute/EU‐Verhandlungen mit Albanien, Bosnien und Herzegowina, 24 Montenegro und Serbien, um die Zusammenarbeit mit Frontex zu erweitern
    4. Keine Einigung über Instrumentalisierungsverordnung 25
  2. Zur Situation an den Außengrenzen – Juli bis Dezember 2022 26
    1. Ostgrenze zu Belarus 26
    2. Westbalkanroute: Österreich, Ungarn und Serbien beschließen Maßnahmen gegen 26 illegale Migration a) Österreich, Serbien und Ungarn 26 b) Position von Frontex auf der Westbalkanroute 27 c) Kroatien 28 d) Bulgarien 28
    3. Zentrale Mittelmeerroute 29
    4. Östliche Mittelmeerroute 30
    5. Westliche Mittelmeerroute/Atlantikroute 30
    6. Illegale Grenzübertritte/Frontex‐Statistiken 31

Schlussbemerkung 32

3

A. EGMR – Rechtsprechung
I. Hinweise
1. Russland nicht mehr durch EMRK gebunden

eine Resolution

2. Aktualisierter Leitfaden zur Rechtsprechung des EGMR in Einwanderungsfragen

Am 31.08.2022 aktualisierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Leitfaden zur Recht‐ sprechung der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einwanderungsfällen, der sich mit dem Zu‐ gang zum Hoheitsgebiet und den Verfahren, der Einreise in das Hoheitsgebiet des beklagten Staates, den materiell‐ und verfahrensrechtlichen Aspekten von Ausweisungs‐ und Auslieferungsfällen und da‐ mit zusammenhängenden Szenarien sowie mit der Rechtsprechung zu Abschiebungen befasst.

3. Neue Präsidentin des EGMR

Am 19.09.2022 wurde Siofra O’Leary, Richterin für Irland, zur neuen Präsidentin des EGMR gewählt. Die erste Präsidentin trat ihr Amt am 01.11.2022 an.

4. „Rule 39 Site“

Der EGMR hat eine „Rule 39 Site“ eingerichtet als neue sichere Plattform, die es Bf. ermöglicht, Anträge auf einstweilige Maßnahmen gem. Art. 39 VerfO einzureichen, und dem EGMR, mit ihnen zu korres‐ pondieren.

II. Urteile

4

Seit dem 16.09.2022 ist Russland keine Vertragspartei der EMRK mehr. Der EGMR hatte am 22.03.2022

zum Austritt Russlands aus dem Europarat erlassen. Russland verlor damit die Eigen‐

schaft als Hohe Vertragspartei i.S.d. Art. 19 EMRK am 16.09.2022. Gem. EMRK war die Russische Fö‐ deration in diesen sechs Monaten rechtlich dazu verpflichtet, alle Urteile und Entscheidungen des

EGMR, die sich auf ihre Handlungen oder Unterlassungen beziehen, umzusetzen. Der EGMR verkün‐

dete, dass er seine Zuständigkeit für alle Beschwerden gegen Russland aufrechterhalte, die bis zum

16.09.2022 eingereicht werden. Über diese und alle noch ausstehenden Beschwerden wird der EGMR

noch entscheiden. Wegen des Ausscheidens Russlands wird zukünftig kein russischer Richter dem Ge‐ richt mehr angehören. Der EGMR bleibt für 17.450 Klagen zuständig, die sich gegen die Russische Fö‐

deration richten und bis zum 16. September 2022 eingereicht wurden.

1. 30.08.2022 – 49857/20 – R. ./. Frankreich: Art. 3 verletzt wg. unzureichender Risikobewertung vor der Abschiebung eines Flüchtlings nach Tschetschenien

Ein russischer Staatsangehöriger mit tschetschenischen Wurzeln sollte nach Russland abgeschoben werden. Zunächst besaß er in Frankreich den Flüchtlingsstatus. Der wurde „wegen ernsthafter Bedro‐ hung der nationalen Sicherheit“ aberkannt, nachdem er wegen Beteiligung an einer kriminellen Ver‐ schwörung zur Vorbereitung einer terroristischen Handlung zu sechs Jahren Freiheitsstrafe und stän‐ digem Aufenthaltsverbot in Frankreich verurteilt worden war.

Er trug vor, seine Abschiebung verstoße gegen Art. 2, 3 und 8. Es bestehe die Gefahr, dass er in Russ‐ land zwangsverschleppt oder misshandelt werde. Seine Frau (ebenfalls russische Staatsangehörige mit Flüchtlingsstatus) und seine minderjährigen Kinder leben weiterhin in Frankreich.

Der EGMR erkannte zwar die Gefahren an, die Terrorismus für eine Gesellschaft darstellt sowie die Bedeutung von Terrorismusbekämpfung. Der in Art. 3 verankerte Schutz sei aber absolut und lasse keine Einschränkungen oder Ausnahmen zu. Selbst wenn die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft des Bf. nicht allein das Risiko einer gegen Art. 3 verstoßenden Behandlung begründe, sei er dennoch weiterhin Flüchtling, was bei der Feststellung des tatsächlichen Risikos einer Ausweisung zu berück‐ sichtigen sei. Frankreich könne nicht ausschließen, dass russischen Behörden vom Gerichtsverfahren, das zur Ausweisung führte, und seiner Beteiligung an terroristischen Handlungen erfahren hätten.

5

Zwar habe das französische VG die Situation des Bf. eingehend bewertet – aber erst nach seiner Ab‐ schiebung nach Russland. Die Unzulänglichkeit der vor der Vollstreckung unterlassenen sorgfältigen Risikoanalyse behob das nicht.

2. 30.08.2022 – 1348/21 – W. ./. Frankreich: Art. 3 verletzt durch Vollstreckung einer Abschiebungsanordnung gegen einen russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft

Der EGMR hatte zunächst eine vorläufige Maßnahme gem. Art. 39 VerfO erlassen, wonach der Bf. nicht ausgewiesen werden dürfe, bis der EGMR entschieden habe.

In seinem Urteil erkannte der EGMR zwar an, dass die Gesellschaft mit terroristischen Bedrohungen konfrontiert sei und Regierungen vorsorgende Maßnahmen ergreifen müssen. Die Ausweisung von Ausländern, die eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen, sei eine grundsätzlich zulässige Maßnahme. Die Menschenrechtslage in Tschetschenien führe auch nicht zu dem Schluss, dass Abschie‐ bungen nach dort generell gegen die EMRK verstießen. Erforderlich sei eine individuelle Bewertung. Der Bf. habe hinreichende materielle Beweise dafür vorgelegt, dass die französischen Behörden im Hinblick auf ein Rückübernahmeersuchen in direktem Kontakt mit den russischen Behörden standen und die Akte mit detaillierten Informationen über ihn und seine Beteiligung an terroristischen Aktivi‐ täten übermittelt hatten. Deswegen und weil aus zuverlässigen internationalen Quellen hervorgehe, dass es in der Tschetschenischen Republik in Fällen, in denen es um Terrorverdächtige geht, nach wie vor zu willkürlichen Inhaftierungen und Folterungen komme, entscheid der EGMR, es gebe stichhaltige Gründe dafür, dass der Bf. dem realen Risiko einer gegen Art. 3 verstoßenden Behandlung ausgesetzt sei, bestätigte dessen Verbleib in Frankreich und verlängerte zugleich die einstweilige Maßnahme bis zur Rechtskraft dieses Urteils.

3. 31.08.2022 – 32891/22 – A.N. ./. Schweden: Art. 3 verletzt wegen geplanter Abschiebung nach Syrien (einstweilige Maßnahme)

Der syrische Bf. beantragte eine erneute Prüfung seines bereits abgelehnten Asylantrags aufgrund ei‐ nes schweren Unfalls, der zu mehreren schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen, zu Roll‐ stuhlabhängigkeit und nur noch eingeschränkter Möglichkeit, Hände und Arme zu nutzen, geführt habe sowie ständige Medikamente und Hilfe erfordere. Seine Ausweisung verstoße gegen Art. 3, da er nicht ohne ernsthafte Gefahr für sein Leben nach Syrien abgeschoben werden könne und keine Mög‐ lichkeit habe, dort Zugang zu medizinischer Behandlung und Medikamenten auf dem erforderlichen Versorgungsniveau zu erhalten Die schwedischen Behörden lehnten seinen Antrag jedoch ab: Die me‐ dizinischen Probleme seien kein Vollstreckungshindernis. Es sei nicht nachgewiesen, dass er medizini‐ sche Versorgung benötige, die in Syrien nicht verfügbar sei.

Gem. Art. 39 VerfahrensO gewährte der EGMR als einstweilige Maßnahme die Aussetzung der Auswei‐ sung für die Dauer des Verfahrens vor dem EGMR.

4. 15.09.2022 – 18603/12 – O.M. und D.S. ./. Ukraine: Art. 3 und 34 verletzt wegen Misshandlung kirgisischer Asylsuchender am Flughafen Kiew

Der Fall aus dem Jahr 2012 betraf eine in Kirgistan verfolgte prominente Journalistin und Politikerin (u. a. ab 2009 Leiterin der Präsidialverwaltung) und ihren Sohn, der mit ihr in die Ukraine reiste, um internationalen Schutz zu beantragen. Sie hatten zuvor in den Niederlanden gelebt.

Bei ihrer Ankunft in Kiew wurden die Bf. zu 1) von Grenzbeamten in die Transitzone des Flughafens gebracht, da sie eine falsche Identität benutzte und ihr Sohn, der Bf. zu 2), nicht über die erforderlichen Dokumente für einen Grenzübertritt in die Ukraine verfügte. Ihre Dokumente wurden beschlagnahmt und die Beamten weigerten sich angeblich, die Asylanträge zu bearbeiten. Den Bf. wurde angeboten, freiwillig nach Kasachstan weiter zu reisen oder unter Androhung der Rückführung nach Kirgisistan in ein anderes Drittland ihrer Wahl auszureisen. Nachdem sie sich geweigert hatten, die Ukraine zu ver‐ lassen, wurden sie nach Georgien abgeschoben.

Die Bf. erklärten, von den ukrainischen Beamten im Transitbereich des Flughafens misshandelt worden zu sein und beschwerten sich über ihre Abschiebung nach Georgien, ohne dass zunächst ihr Vortrag über die Gefahr von Misshandlungen oder Zurückweisung geprüft wurde.

Dazu der EGMR: Die Verfahrenspflicht gem. Art. 3 wurde verletzt, da die ukrainischen Beamten ver‐ säumt hatten, die behauptete Gefahr einer gegen Art. 3 verstoßenden Behandlung vor der Abschie‐ bung zu prüfen. Die detaillierte, spezifische und übereinstimmende Schilderung der relevanten Ereig‐ nisse in der Ukraine durch die Bf. beweise, dass die Grenzbeamten verweigerten, Asylanträge entge‐ genzunehmen und die Bf. gegen ihren Willen aus der Ukraine abgeschoben wurde.

Ferner hätten die ukrainischen Behörden es versäumt, den gem. Art. 39 VerfO angeordneten einstwei‐ ligen Maßnahmen nachzukommen, ohne dafür eine ausreichende Rechtfertigung zu liefern. Das ver‐ letze Art. 34.

Art. 5 sei nicht verletzt, da die Kontroll‐ und Überwachungsmaßnahmen keine Freiheitsentziehung i.S.d. Art. 5 Abs. 1 waren. Dauer, Ausmaß oder Intensität gingen nicht über das hinaus, was für die ukrainischen Beamten zur Erfüllung der Formalitäten unbedingt erforderlich war.

5. 27.09.2022 – 18339/19 – Otite ./. UK: Art. 8 nicht verletzt bei Ausweisung nach strafrechtlicher Verurteilung wegen (schweren) Betruges

Der Kläger reiste als Ehegatte einer niedergelassenen Person in das UK ein und erhielt zunächst eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Nach strafrechtlicher Verurteilung wegen eines schweren Betrugs‐ delikts wurde er ausgewiesen. Behörden und Gerichte im UK waren der Ansicht, für den Bf. und seine Familie (Frau und drei Kinder, alle britische Staatsbürger) sei es keine unangemessene Härte, wenn er abgeschoben würde.

Der EGMR entschied, das nationale Gericht habe den Sachverhalt eingehend geprüft, die Schwere der Straftat gegen die voraussichtlichen Auswirkungen auf das Familien‐ und Privatleben abgewogen und sich dabei auf Kriterien bezogen, die in der Rechtsprechung des EGMR in den Verfahren Boultif ./. Schweiz (54273/00) und Üner ./. Niederlande (46410/99) benannt wurden. Zwar stelle die Abschie‐ bung einen Eingriff in die Rechte des Bf. nach Art. 8 Abs. 1 dar. Entscheidend sei, ob die Abschiebungs‐ anordnung einen gerechten Ausgleich zwischen den Rechten des Bf. und dem öffentlichen Interesse herstelle. Hier stehe sie im Einklang mit dem nationalen Gesetz und verfolge ein legitimes Ziel (Verhin‐ derung von Straftaten) i.S.v. Art. 8 Abs. 2. Der Bf. habe nur elf Jahre in Freiheit im UK verbracht (vier mit Straftaten), und sich offenbar nicht wirtschaftlich integriert. Bei dem Betrugsdelikt habe es sich um ein schweres Verbrechen gehandelt. Das Familien‐ und Privatleben des Bf. im UK überwiege nicht das öffentliche Interesse an seiner Abschiebung. Diese verstoße daher nicht gegen Art. 8.

6. 06.10.2022 – 9264/15 – B.Ü. ./. Tschechien: Art. 3 nicht verletzt wegen angeblich „unzureichender“ Untersuchung der Misshandlung eines Asylbewerbers während der Haft

Der Bf., türkischer Staatsangehöriger, kam am 16.10.2013 auf dem Prager Flughafen an und wurde in Gewahrsam genommen. Ihm wurde ein Ausweisungsbescheid sowie ein Wiedereinreiseverbot erteilt. Aufgrund seiner Aggressivität wurde er unter strengen Auflagen im Bělá‐Jezová Detention Centre for Foreigners untergebracht. Zur Verletzung von Art. 3 trägt er vor, während seiner Inhaftierung sei er von Beamten misshandelt, mit einem Knüppel geschlagen, getreten und mit Tränengas beworfen wor‐ den. Er bezog sich sowohl auf Misshandlungen am Flughafen, als auch in der Haft und die daraus re‐ sultierenden Ermittlungsverfahren. Ferner sei Art. 13 verletzt worden, weil es keinen wirksamen in‐ nerstaatlichen Rechtsbehelf gab, um seine Ansprüche geltend zu machen.

Der EGMR entschied, bei Anwendung von Gewalt während einer Festnahme sei zu prüfen, ob die Ge‐ waltanwendung angesichts der Umstände unbedingt erforderlich und verhältnismäßig war. Gegen den Bf. sei Pfefferspray und kein Tränengas eingesetzt worden, nachdem „andere manuelle Kontrolltech‐ niken“ keine Wirkung gezeigt hatten. Z. Zt. der Vorfälle am Flughafen hätten die Beamten nicht wissen können, dass sich der Bf. aufgrund einer psychosozialen Störung in einem gefährdeten Zustand befand. Die tschechische Regierung habe trotz der unterschiedlichen Angaben zur Ursache der Verletzungen des Bf. eine plausible Erklärung und entsprechende Beweise vorgelegt. Die untersuchenden Ärzte am Flughafen und im Krankenhaus hätten keine negativen Auswirkungen des Sprays erwähnt. Unter den gegebenen Umständen war – so der EGMR – der Einsatz von Pfefferspray weder unverhältnismäßig noch rechtswidrig. Art. 3 sei weder materiell‐ noch verfahrensrechtlich verletzt worden, gesonderten Fragen nach Art. 13 ergäben sich daher nicht.

6

7. 06.10.2022 – 37610/18 – Liu ./. Polen: Art. 3 verletzt im Falle einer Auslieferung an China

Ein taiwanesischer Staatsangehöriger, wegen internationalen Betrugs im großen Stil angeklagt, sollte von Polen an China ausgeliefert werden. Er trug vor, das werde zum realen Risiko einer Misshandlung in der Haft führen. Ein faires Verfahren werde ihm verweigert. Seine über vierjährige Auslieferungshaft sei unangemessen lang und damit willkürlich.

Der EGMR war nicht überzeugt, dass die Behauptungen des Bf. von polnischen Behörden ordnungsge‐ mäß geprüft worden waren. China habe weder den Internationalen Pakt über bürgerliche und politi‐ sche Rechte (ICCPR) ratifiziert noch sei es Vertragspartei des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen gegen Folter. Die Befugnis des Ausschusses der UN gegen Folter (CAT), eine Untersuchung durchzu‐ führen, habe China nicht anerkannt. Infolgedessen können Personen, die eine Verletzung ihrer Men‐ schenrechte geltend machten, keinen unabhängigen internationalen Schutzmechanismus in Anspruch nehmen und kein unabhängiges internationales Gremium habe die Möglichkeit, ohne vorherige Einla‐ dung Chinas eine Untersuchung vor Ort durchzuführen. Bei Verbot und Verhütung von Folter bestün‐ den in China nach wie vor erhebliche Mängel. Das Ausmaß, in dem Folter und andere Formen der Misshandlung in chinesischen Strafvollzugsanstalten nach glaubhaften und übereinstimmenden Be‐ richten angewandt werde, könne als allgemeine Gewaltsituation angesehen werden. Daher bestehe ein tatsächliches Risiko für Misshandlung in Haft. Die informellen chinesischen Erklärungen, welche der polnischen Regierung gegeben wurden (keine diplomatischen Zusicherungen), böten keine ausrei‐ chende Rechtsgarantie für den Bf. Er müsse daher keine besonderen persönlichen Gründe für seine Furcht nachweisen. Seine Auslieferung an China würde seine Menschenrechte verletzen.

Zur Auslieferungshaft von über vier Jahren entschied der EGMR, die inländischen Behörden hätten nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt und nicht sichergestellt, dass die Haftdauer des Bf. nicht die Zeit übersteige, die für den verfolgten Zweck vernünftigerweise erforderlich sein könnte. Die Haft habe daher Art. 5 Abs.1. verletzt.

8. 06.10.2022 – 18207/21 – S. ./. Frankreich: Art. 3 verletzt, wenn Bf. ohne angemessene ExnuncBewertung der Situation nach Russland abgeschoben wird

Der russische Staatsangehörige S. war zunächst – ebenso wie seine Frau – als Flüchtling anerkannt worden. Das wurde jedoch später für S. wegen „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ widerrufen. Er sollte nach Russland abgeschoben werden.

Unter Bezugnahme auf seine Urteile Khasanov und Rakhmanov gegen Russland (28492/15 und 49975/15) konzentrierte der EGMR seine Prüfung auf die vorhersehbaren Folgen einer Ausweisung und Abschiebung, unter Berücksichtigung der allgemeinen Situation, der persönlichen Umstände des Bf. sowie Informationen über das Vorhandensein einer gefährdeten Gruppe.

Die allgemeine Lage im Nordkaukasus führe trotz gemeldeter schwerer Menschenrechtsverletzungen nicht zur Feststellung, dass eine Abschiebung nach Russland stets gegen Art. 3 verstoße.

Zur individuellen Situation des Bf., der in den tschetschenischen Widerstandskampf verwickelt sei und im Verdacht stehe, an terroristischen Aktivitäten beteiligt gewesen zu sein, stellte der EGMR fest, dass die Gruppe, der er zugerechnet werde, nicht als systematisch verfolgt und misshandelt angesehen werde. Die Behörden hätten dennoch die Gefahr von Misshandlungen im Falle einer Abschiebung nicht angemessen bewertet, da offenbar nicht geprüft wurde, ob der Bf. ein Profil aufweise, das einer der besonders gefährdeten Gruppen entspreche. Daher würde es gegen den verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 3 verstoßen, die Abschiebungsanordnung zu vollstrecken, ohne dass die Behörde eine Ex‐ nunc‐Bewertung des möglichen Risikos durchführte.

9. 13.10.2022 – 41764/17 – T.Z. u.a. ./. Polen: Art. 3 und Art. 4 Prot. Nr. 4 verletzt wegen kollektiver Ausweisung nach Weißrussland und ernsthafter Gefahr von Kettenabschiebung und Misshandlung

Für die Bf., eine russische Familie tschetschenischer Herkunft, lehnten polnische Behörden mehrfach ab, Anträge auf internationalen Schutz zu prüfen, verweigerten die Einreise und schoben sie nach Bela‐ rus zurück.

7

Zur Zulässigkeit entschied der EGMR: Der Rechtsbehelf gegen die Einreiseverweigerung hat keine auf‐ schiebende Wirkung und hätte die Rückführung nach Belarus nicht verhindert. Es sei daher kein wirk‐ samer Rechtsbehelf i.S.d. EMRK.

Zu Art. 3 verwies der EGMR auf sein Urteil in der Rechtssache M.K. u. a. gegen Polen (Anträge Nr. 40503/17, 42902/17 und 43643/17) und bekräftigte, dass der polnische Staat verpflichtet war, die Si‐ cherheit der Bf. zu gewährleisten, insbesondere indem er ihnen erlaubte, innerhalb der polnischen Gerichtsbarkeit zu verbleiben, und indem er Garantien dafür bot, dass sie nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren mussten, bis ihr Antrag von einer zuständigen polnischen Behörde ordnungsgemäß ge‐ prüft worden war. Ein Staat dürfe einer Person, die an einem Grenzübergang vorstellig wird und be‐ hauptet, sie könne bei einem Verbleib im Hoheitsgebiet des Nachbarstaates misshandelt werden, den Zugang zu seinem Hoheitsgebiet nicht verweigern, solange sie keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, es sei denn, es werden angemessene Maßnahmen ergriffen, um eine solche Gefahr zu beseitigen. Hier sei aber kein Verfahren zur Überprüfung der Asylanträge eingeleitet worden. Die Bf. verfügten auch nicht über wirksame Schutzgarantien vor der realen Gefahr, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung sowie Folter ausgesetzt zu werden. Dass den Bf. nicht gestattet wurde, in Polen bis zum Ergebnis der Prüfung ihres Antrags sich weiter aufzuhalten, habe sie der ernsthaften Gefahr einer Kettenabschiebung aus Belarus und einer nach Art. 3 verbotenen Behandlung ausgesetzt.

Ein Verstoß gegen Art. 4 Protokoll Nr. 4 zur EMRK und Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 3 und Art. 4 Prot. Nr. 4 lag ebenfalls vor, da die Bf. ohne Prüfung ihres Asylantrags nach Weißrussland abgeschoben wurden.

10. 20.10.2022 – 22105/18 – M.T. u. a. ./.Schweden: Art. 8 nicht verletzt wegen 3Jahresfrist für Familienzusammenführung bei subsidiär Schutzberechtigten

Die schwedischen Behörden hatten es abgelehnt, einer Mutter und ihrem Sohn, die sich in Syrien auf‐ hielten, zur Zusammenführung mit einem weiteren Sohn/Bruder, der zunächst als unbegleiteter Min‐ derjähriger nach Schweden gekommen war, dort seit 11/2016 als subsidiär geschützt lebt und im Au‐ gust 2018 volljährig wurde, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Sie hatten diese im Februar 2017 bei der schwedischen Botschaft in Khartum wegen des Schutzstatus des Sohnes/Bruders in Schweden be‐ antragt. Ihr Recht auf Familienzusammenführung wurde aufgrund einer Gesetzesänderung, die seit 24.11.2015 für Personen mit subsidiärem Schutzstatus galt und die eine andere Behandlung als für anerkannte Flüchtlinge vorsieht, für drei Jahre ausgesetzt.

Der EGMR verwies auf sein Urteil M.A. ./. Schweden (6697/18), in dem Art. 8 als verletzt angesehen worden war, weil einem langjährig verheirateten Paar die Zusammenführung aufgrund der dreijähri‐ gen Wartefrist für Personen mit vorübergehendem Schutzstatus verweigert wurde. Im Gegensatz dazu sei in M.T. u. a. die Wartezeit schrittweise verkürzt worden. Die Bf. seien de facto nur vom 17.02 2017 bis 08.08.2018 von der Aussetzung betroffen gewesen, also weniger als zwei Jahre. Es gebe keine An‐ haltspunkte dafür, dass das schwedische Befristungsgesetz keine individuelle Bewertung der Interes‐ sen der Einheit der Familie im Lichte der konkreten Situation der betroffenen Personen zuließ oder eine solche im Fall der Bf. nicht durchgeführt wurde. Unter Berücksichtigung des Ermessensspielraums war der EGMR überzeugt, dass die Behörde bei der Aussetzung einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse der Bf., in Schweden zusammengeführt zu werden und dem Interesse der Allgemeinheit am Schutz des wirtschaftlichen Wohlergehens des Landes durch Regelung der Einwanderung und Kon‐ trolle der öffentlichen Ausgaben andererseits gefunden habe.

Anschließend prüfte der EGMR einen möglichen Verstoß gegen Art. 14 i. V.m. Art. 8 wegen der unter‐ schiedlichen Behandlung der Bf. Die Bedingungen für Personen, die aus einer allgemeinen Gefahren‐ situation fliehen, unterschieden sich wesentlich, da sie im Allgemeinen ein „vorübergehenderes“ Schutzbedürfnis haben, als Personen mit einem Flüchtlings‐/Asylstatus. Die Zahl der Asylbewerber, die sich auf eine allgemeine Situation in Syrien berufen, sei höher und das Verfahren für die Zuerkennung des Status anders. Auch im EU‐Recht beschränkten Normen das Recht auf Familienzusammenführung für Personen mit subsidiärem Schutz und unterschieden sie von anerkannten Flüchtlingen. Es gebe daher im Hinblick auf das Schutzbedürfnis und das Bedürfnis nach Familienzusammenführung tatsäch‐ liche und rechtliche Argumente dafür, dass sich Personen, die vor einer allgemeinen Situation in ihrem

8

Herkunftsland fliehen, nicht in der gleichen Situation befinden wie jene, die aufgrund individueller Ge‐ fahr vor Verfolgung oder Misshandlung geflohen sind. Art. 14 i.V.m. Art. 8 sei daher nicht verletzt wor‐ den.

11. 31.10. 2022 – 49255/22 – Camara ./. Belgien: einstweilige Maßnahme gem. Art. 39 VerfO wegen Unterbringung und Gewährung von Sozialleistungen

Herr Camara, guineischer Staatsangehöriger hatte seit seinem Antrag auf internationalen Schutz keine Unterkunft von der Föderalen Agentur für die Aufnahme von Asylbewerbern (Fedasil) erhalten, weil die Aufnahmezentren für Asylbewerber in Belgien angeblich überfüllt waren. Belgische Gerichte hat‐ ten Fedasil bereits verurteilt, den Bf. in einem Aufnahmezentrum, einem Hotel oder einer anderen geeigneten Einrichtung unterzubringen, was jedoch nicht umgesetzt wurde.

Der EGMR entschied, dass Belgien der gerichtlichen Anordnung nachkommen und dem Bf. Unterkunft und materielle Unterstützung zur Deckung seiner Grundbedürfnisse gewähren muss. Ähnlich dieser Maßnahme verpflichtet die Entscheidung Belgien, den Anordnungen des Brüsseler Arbeitsgerichts nachzukommen und jedem der 148 Asylbewerber während des laufenden Verfahrens Unterkunft und materielle Unterstützung zur Deckung der Grundbedürfnisse zu gewähren.

12. 03.11.2022 (Gr. Kammer) – 22854/20 – SanchezSanchez ./. UK: Art. 3 nicht verletzt bei Auslieferung eines straftatverdächtigen Mexikaners vom UK an die USA

Herr Sanchez, mexikanischer Staatsangehöriger, wurde auf Ersuchen der USA im UK verhaftet unter dem Verdacht, in den USA an Drogenhandel beteiligt gewesen zu sein. Er machte geltend, seine Aus‐ lieferung verstoße gegen Art. 3, da ihm lebenslange Haft ohne Möglichkeit der Bewährung drohe.

Die Große Kammer führte aus, dass die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe gegen einen erwach‐ senen Täter weder durch Art. 3, noch einen anderen Artikel der EMRK verboten oder damit unverein‐ bar ist. Jedoch könne die Verhängung ohne Aussicht auf Entlassung im Einzelfall unverhältnismäßig sein. Die Grundsätze, die in Vinter u. a. ./. UK (66069/09, 130/10 und 3896/10) für innerstaatliche Strafsachen aufgestellt wurden, müssten für Auslieferungsverfahren angepasst werden. Ein Bf. müsse dann aber stichhaltige Gründe für die Annahme nachweisen, dass ihm bei Verurteilung lebenslange Freiheitsstrafe ohne Bewährung drohe. Art. 3 werde nicht verletzt, wenn die Strafe sowohl de jure als auch de facto durch einen Überprüfungsmechanismus herabgesetzt werden könne, der es den inlän‐ dischen Behörden ermögliche, Fortschritte des Betroffenen bei seiner Rehabilitation oder andere Gründe für eine Entlassung aufgrund seines Verhaltens oder anderer relevanter persönlicher Um‐ stände zu berücksichtigen.

Zu Art. 3 habe der Bf. aber keine Beweise vorgelegt, dass seine Auslieferung an die USA ihn dem realen Risiko einer Behandlung aussetzen würde, die die Schwelle von Art. 3 erreicht, da noch nicht entschie‐ den sei, dass er zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt werde. Daher sei seine Auslieferung mit Art. 3 vereinbar. Die aufschiebende Maßnahme gem. Art. 39 VerfO wurde aufgehoben.

Hinweis: Damit entwickelt der EGMR eine neue Herangehensweise für Auslieferungsfälle an Nicht‐Ver‐ tragsstaaten, in denen weder ein Schuldspruch, noch eine Verurteilung ergangen ist, die Untersagung der Auslieferung aber zugleich das gerichtliche Verfahren verhindern würde.

13. 08.12.2022 – 34349/18, 34638/18 und 35047/18 – M.K. u. a. ./. Frankreich: Art. 6 Abs.1 verletzt wegen Nichtbefolgung einstweiliger Maßnahmen zur Vergabe einer Notunterkunft

Die Bf. im Verfahren 34349/18, kongolesische Staatsangehörige, war in Begleitung ihrer drei Töchter (3, 5 und 14 Jahre – die drei anderen Bf.) aus ihrem Herkunftsland geflohen. Ihre 5‐jährige Tochter sei Opfer einer Vergewaltigung. Alle Bf. reisten am 29.05.2018 in Frankreich ein und beantragten am 01.06.2018 Asyl. Es wurde bescheinigt, dass der Antrag gestellt wurde, aber im Dublin‐Verfahren über‐ prüft werden müsse. Am selben Tag akzeptierte sie die materiellen Aufnahmebedingungen, die vom Amt für Einwanderung und Integration angeboten wurden.

9

Vom 02. bis 21.06.2018 kontaktierte die Bf. zu 1) vierzehn Mal den Sozialdienst, um mit ihren drei Töchtern eine Unterbringung in einem Obdachlosenheim zu erhalten. Dies wurde jedoch immer wie‐ der verwehrt. In den individuellen Vermerken stellten die Mitarbeiter zwar die Verletzlichkeit der Fa‐ milie fest sowie, dass eines der Mädchen krank war und die Bf. zu 1) Angst um ihre älteste Tochter hatte, die angeblich von Männern in dem Park, in dem sie schliefen, bedroht worden war. Der Sozial‐ dienst erwähnte mehrmals die Erschöpfung aller Familienmitglieder. Am 11.06.2018 verfasste ein Arzt ein Attest, in dem er seine Besorgnis über den Gesundheitszustand des fünfjährigen Mädchens zum Ausdruck brachte und darauf hinwies, dass eine Absicherung durch Unterbringung in einer Unterkunft unerlässlich sei. Das Mädchen wurde psychologisch betreut, wie aus den Berichten des Bereitschafts‐ dienstes für den Zugang zur Gesundheitsversorgung vom 15. bis 27.06.2018 und vom 20.07.2018 her‐ vorgeht. Ab 12.06.2018 verbrachten die Bf. ihre Nächte in der Eingangshalle eines Krankenhauses auf Sitzen oder auf dem Boden. Vom 26.06. bis 03.07.2018 lebten sie wieder auf der Straße und kontak‐ tierte insgesamt neun Mal die Sozialbehörde wegen ihrer Unterbringung. In Vermerken des Sozialamts wurde die Dringlichkeit einer Unterbringung erwähnt, jedoch keine Lösung vorgeschlagen.

Am 25.06.2018 beantragte die Bf. zu 1) beim VG eine einstweilige Verfügung, um die Verwaltung an‐ zuweisen, sie und ihre Töchter unterzubringen. Ihr Antrag richtete sich zum einen gegen die Sozialbe‐ hörde auf die im Rahmen des Asylverfahrens vorgesehene Unterbringung und zum anderen gegen die Präfektur des Departements im Hinblick auf die gesetzlich vorgesehene Notunterbringung. Mit Be‐ schluss vom 27.06.2018 wies der Richter des VG den Präfekten des Departements an, den Bf. unver‐ züglich eine Notunterkunft zuzuweisen – unter Androhung eines Zwangsgelds von 200 € pro Tag der Verzögerung.

Zu Art. 6 Abs.1 stellte der EGMR fest, dass es in Frankreich ein Recht auf Notunterbringung gibt und eingefordert werden könne. Das sei keine Entscheidung im Zusammenhang mit Einwanderung, Ein‐ reise, Aufenthalt oder Abschiebung von Ausländern. Gewährung oder Verweigerung eines Platzes in einer Notunterkunft stelle ein zivilrechtliches Recht dar, das dem auf Wohnung oder Sozialhilfe ähnele. Da das VG anerkannt hatte, dass die Bf. die Voraussetzungen zur Gewährung einer Notunterkunft er‐ füllten, habe der Staat seine Pflicht nicht erfüllt und offensichtlich das Grundrecht auf Notunterkunft verletzt. Das in Art. 6 Abs. 1 garantierte Recht auf Zugang zu den Gerichten wäre illusorisch, wenn die innerstaatliche Rechtsordnung zuließe, dass eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung unwirksam bliebe. Die Vollstreckung sei integraler Bestandteil des Rechts, da es in erster Linie Aufgabe staatlicher Behörden sei, die Vollstreckung einer Gerichtsentscheidung sicherzustellen. Fehlende finanzielle Mit‐ tel könnten kein Argument sein, um nicht zu vollstrecken. Verzögerungen dürften nicht den Kern des geschützten Rechts verletzen.

Die regionalen Behörden hätten in der Phase der Vollstreckung nicht die vom VG geforderten Hand‐ lungen durchgeführt, sondern seine völlig passiv geblieben, obwohl es um den Schutz der Menschen‐ würde ging. Die Bf. hätten sich mit Sorgfalt um Vollstreckung der Anordnungen bemüht. Dies zeigten ihre zahlreichen Anträge, obwohl der Staat die Maßnahmen schon von Amts wegen hätte vollstrecken müssen. Obwohl die Zeiträume der Nichtbefolgung der Anordnungen nicht übermäßig lang waren (zwischen 12 und 27 Tagen), hätten die Behörden nicht nur verzögert gehandelt, sondern sich offen‐ kundig geweigert, gerichtlichen Anordnungen nachzukommen, so dass die Vollstreckung erst nach den vom EGMR angeordneten einstweiligen Maßnahmen erfolgt war. Folglich sei Art. 6 Abs. 1 verletzt wor‐ den.

Die Bf. seien unter diesen besonderen Umständen auch von der Verpflichtung befreit, die nach inner‐ staatlichem Recht zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe auszuschöpfen, da es in Anbetracht der von den Bf. unternommenen Schritte zur Vollstreckung der Gerichtsentscheidungen, mit denen ihnen eine Notunterkunft zugestanden wurde, ein unverhältnismäßiges Hindernis für die wirksame Ausübung ih‐ res Rechts auf einen individuellen Rechtsbehelf i.S.v. Art. 34 darstellen würde, zu verlangen, sich er‐ neut an die nationalen Gerichte wenden, um eine Entschädigung zu erhalten.

10

14. 15.12.2022 – 64050/16, 64558/16, 66064/16 – W.A. u.a. ./.Ungarn: Art. 3 verletzt wegen unzureichender Bewertung der Risiken einer Rückführung von Drittstaatsangehörigen nach Serbien

Die Bf. kamen aus Serbien nach Ungarn in die Transitzone Röszke an der Grenze zwischen den beiden Staaten. Sie beantragten sofort Asyl. Die Asylbehörde lehnte die Anträge jedoch innerhalb weniger Stunden als unzulässig ab und ordnete die Ausweisung an. Die Bf. beantragten eine gerichtliche Über‐ prüfung, die jedoch erfolglos blieb. Die ungarische Grenzpolizei schob die Bf. ohne Absprache mit ser‐ bischen Behörden nach Serbien ab.

Der EGMR nahm Bezug auf das Urteil Ilias und Ahmed ./. Ungarn (47287/15 – 21.11.2019), in dem die verfahrensrechtlichen Verpflichtungen des ausweisenden Staates nach Art. 3 zusammengefasst sind. Das innerstaatliche Recht und die anwendbaren Länderinformationen seien identisch. Der einzige Un‐ terschied bestehe darin, dass die Bf. hier keinen Zugang zu Rechtsbeistand hatten, was ihre Situation verschlimmere.

Ungarn habe nicht hinreichend nachgewiesen, dass Serbien im Allgemeinen ein sicherer Drittstaat ist, und der UNHCR‐Bericht über Asyl in Serbien unzuverlässig ist. Da Ungarn vor Abschiebung der Bf. nach Serbien das Risiko ihrer Behandlung dort nicht bewertet habe, habe es gegen seine Verfahrenspflich‐ ten nach Art. 3 verstoßen.

15. 20.12.2022 – 37241/21 – S.H. v. Malta: Art. 3 und 13 verletzt wegen unzureichender Verfahren zum internationalen Schutz

Der Bf. S.H. kam mit einem Boot in Malta an und wurde sofort festgenommen. Er gab an, Journalist in Bangladesch zu sein, der von der regierenden Partei wegen seiner Berichterstattung über Unregelmä‐ ßigkeiten während der nationalen Wahlen 2018 verfolgt wurde. Sein Asylantrag wurde in erster Instanz und in der Berufung abgelehnt. S.H. beschwerte sich unter Berufung auf Art. 3 und 13, die maltesischen Behörden hätten seinen Asylantrag nicht ordnungsgemäß geprüft, das Verfahren sei mangelhaft ge‐ wesen, insbesondere hätten keine wirksamen Rechtsbehelfe zur Verfügung gestanden.

Zu Art. 13 stellte der EGMR erstens fest, dass Menschen wie der Bf. in maltesischen Haftanstalten keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand haben. Dieser Zugang sei während der Covid‐19‐Pandemie weiter eingeschränkt worden. Zweitens bekräftigte der EGMR den Grundsatz eines „sachtypischen Be‐ weisnotstandes“, der Asylbewerbern bei der Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit zuzugestehen sei, ins‐ besondere, wenn sie – wie der Bf. – ohne Rechtsbeistand und zudem inhaftiert sind. Malta hätte de‐ tailliert begründen müssen, warum Vortrag und Beweise des Bf. unberücksichtigt blieben.

Hier seien jedoch die nationalen Entscheidungen innerhalb von 24 Stunden getroffen und nur kurz und stereotyp begründet worden. Wirksame Asylverfahren erforderten zuverlässige Kommunikation zwi‐ schen Behörde und Bf. S.H. wurde aber erst mehrere Monate nach der Entscheidung informiert. Das Kommunikationssystem war also eindeutig mangelhaft – so der EGMR. Der maltesische Verfassungs‐ rechtsbehelf sei kein geeigneter Rechtsbehelf, da ohne aufschiebende Wirkung. S.H. habe mithin kei‐ nen Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 13 für die Klage nach Art. 3 gehabt.

Zu Art. 3 entschied der EGMR, dieser werde verletzt, falls der Bf. nach Bangladesch abgeschoben würde, ohne dass seine Behauptung erneut geprüft wird, dass er als Journalist, der über die Unregel‐ mäßigkeiten bei den Wahlen 2018 berichtet hat, im Falle einer Rückführung Gefahr liefe, im Wider‐ spruch zu Art. 3 behandelt zu werden.

III. EGMR – typische Auslegungsmuster des Verhältnismäßigkeitprinzips (Urteile 2020 – 2022):

1. Verwaltungshaft für (Klein)Kinder ist fast immer unverhältnismäßig

Z. B. Bilalova u. a. ./. Polen – 23685/14 – U. v. 26.03.2020; N.B. u. a. ./. Frankreich – Nr. 49775/20 – 31.03.2021; R.R. u. a. ./. Ungarn – 36037/17 – U. v. 02.03.2021; M.D. und A.D. ./. Frankreich – Nr. 57035/18 – U. v. 22.07.2021; M.H. und Kroatien – Nr. 15670/18 – 18.11.2021; M.B.K u. a. ./. Ungarn – 73860/17 – 24.02. 2022; Nikoghosyan u. a. ./. Polen – 14743/17 – 03.03 2022; H.M. u. a. ./. Ungarn – 38967/17 – 02.06.2022

11

2. Verwaltungshaft für Erwachsene insbes. nach Asylantragstellung ist grundsätzlich zulässig, das Verfahren muss dann aber beschleunigt betrieben werden (max. 2 3 Monate)

Vgl o. g.; für Abschiebungshaft: Feilazoo ./. Malta – 6865/19 – U. v. 11.03.2021; M.B.K. u. a. ./. Ungarn – 73860/17 – 24.02. 2022; Muhammad Saqawat ./. Belgien – 54962/18 – U. v. 30.06.2020

3. Abschiebungshaft für mehr sechs Monate ist stets problematisch, oft unverhältnismäßig

M.D. u. a. ./. Russland – 71321/17 – U. v. 14.09.2021; Ali Reza ./. Bulgarien – 35422/16 – U. v. 17.05.2022

4. Staaten (wie Ungarn oder Polen), deren Grenzen zumindest teilweise Außengrenzen des SchengenRaums sind, müssen einen „echten“ und „effektiven“ Zugang zu legaler Einreise, insbesondere zu Asylverfahren an der Grenze, ermöglichen.

M. K. u. a. ./. Polen – 40503/17, 42902/17, 43643/17 – U. v. 23.07.2020; D.A. u. a. /. Polen – Nr. 51246/17 – 08.07.2021.

5. Rechtsmittelmöglichkeiten gegen Verwaltungsentscheidungen müssen gesetzlich vorgesehen, für die Betroffenen faktisch erreichbar und effektiv sein (auch: Dolmetscher verfügbar, evtl. AnwältInnen)

D. ./. Bulgarien – 29447/17 – 20.07.2021; S.H. v. Malta – 37241/21 – 20.12.2022

6. Art. 8/Verwurzelung: Abschiebung und Wiedereinreisesperre bis sechs Jahre ist ok, lebenslange bedarf besonderer Rechtfertigung, sonst unverhältnismäßig

Abd i./. Dänemark – 41643/19 – U. v. 14.09.2021; Savran ./. Dänemark – 57467/15 – U. v. 07.12.2021; Munir Johanna ./. Dänemark – 56803/18 U. v. 12.01.2021; Khan ./. Dänemark – 26957/19 – U. v. 12.01.2021.

7. Lebensbedingungen bei Obdachlosigkeit: 63 Tage Obdachlosigkeit sind verhältnismäßig, mehr als 90 Tage nicht

N.H. u. a.. /. Frankreich – 28820/13 – U. v. 02.07.2020

8. Sexuelle Orientierung: Niemand soll verpflichtet sein, seine sexuelle Orientierung zu verbergen, um Verfolgung zu vermeiden:

C und B. ./. Schweiz – Nr. 43987/16 und 889/19 – U. v. 17.11.2020

9. Familiennachzug (insbes. zu Flüchtlingen): Dreijährige gesetzliche Wartefrist für Familienzusammenführung für Personen mit subsidiärem oder vorübergehendem Schutzstatus verletzt Art. 8 EMRK:

M.A. ./. Dänemark – 6697/18 – U. v. 09.07.2021; anders: M.T. u. a. ./. Schweden – 22105/18 – U. v. 20.10.2022

10. Verhaltensweisen von Geflüchteten, die einen „Sturm auf Europa“ bedeuten könnten (Grenzüberwindung in Ceuta/Mellia; Marsch der Hoffnung in Nordmazedonien, Antrag auf Visum zur Durchführung eines Asylverfahrens in der EU), sind abzulehnen.

N.D. und N.T. ./. Spanien– Nr. 8675/15, 8697/15 – U. v. 13.02.2020; Asady u. a. ./. Slowakei – 24917/15 – U. v. 24.03.2020; M.N. u. a. ./. Belgien – 3599/18 – 05.05.2020; A.A. u. a. ./. Nordmazedonien – 55798/16, 55808/16, 55817/16 – U. v. 05.04.2022

12

B. EuGHRechtsprechung

1. 01.08.2022 – C720/20: Zur Asylzuständigkeit bei „nachgeborenen Kindern“ (Vorabentscheidung – Vorlage VG Cottbus)

Der Asylantrag einer in Deutschland geborenen russischen Mdj. wurde als unzulässig abgelehnt, weil ihren Eltern und Geschwistern vor ihrer Geburt und vor der Einreise der Familie nach Deutschland in Polen Asyl gewährt worden sei. Gem. Dublin‐III‐VO sei Polen prüfungszuständig. Dagegen klagte die Mdj. vor dem VG Cottbus, das den EuGH anrief.

Dieser entschied: Der MS, der den Familienangehörigen Asyl gewährt hat, ist gem. Dublin‐III‐VO für die Prüfung nur zuständig, sofern dieser Wunsch ausdrücklich schriftlich geäußert wurde. Nach dem ein‐ deutigen Wortlaut der Dublin‐III‐VO könne von dieser Voraussetzung nicht deshalb abgewichen wer‐ den, weil die Familie den MS, der Asyl gewährt habe, verließ und in den MS, in dem der Mdj. Asyl beantragt habe, unrechtmäßig eingereist sei. Sei ein solcher Wunsch nicht schriftlich kundgetan und lasse sich anhand der Kriterien der Dublin‐III‐VO kein anderer MS als zuständig bestimmen, sei der erste MS, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig. Auch auf Grundlage der AsylverfahrensRL (2013/32/EU) könne der Antrag eines Mdj. nicht mit der Begründung für unzulässig erklärt werden, dass seine Eltern in einem anderen MS internationalen Schutz genießen. Der Unzuläs‐ sigkeitsgrund, dass in einem anderen MS bereits Schutz gewährt wurde, liege nur vor, wenn der Ast. selbst bereits internationalen Schutz genießt.

2. 01.08.2022 – C 19/21 – I. und S. ./. NL: Ein unbegleitetes Kind hat das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Aufnahmeantrags im Rahmen des DublinSystems (Vorabentscheidungsersuchen Rechtbank Den Haag)

I., ägyptischer Staatsangehöriger, beantragte als Mdj. in Griechenland internationalen Schutz und zu‐ gleich, er wolle zusammengeführt werden mit seinem Onkel S., der sich rechtmäßig in den Niederlan‐ den aufhält und für ihn sorgen kann. Daraufhin beantragten die griechische Behörde bei der nieder‐ ländischen, ihn in Obhut zu nehmen; dies wurde abgelehnt. I. und S. legten Widerspruch ein, der je‐ doch unzulässig war, weil die Dublin‐III‐Verordnung für Personen, die internationalen Schutz beantra‐ gen, nicht vorsehe, eine Entscheidung über die Ablehnung eines Aufnahmegesuchs anzufechten. I. und S. klagten auf Nichtigerklärung der Entscheidung: Sie seien berechtigt, ein gerichtliches Verfahren ein‐ zuleiten. Das vorlegende Gericht wollte vom EuGH wissen, ob Art. 27 Dublin‐III‐VO oder Art. 47 d GR‐ Charta dem umF und seinem Familienangehörigen einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Ableh‐ nung des Aufnahmeantrags durch den MS einräume.

Dazu der EuGH: Eines der Ziele von Dublin III sei, Ast. durch gerichtliche Garantien zu schützen. Ein umF müsse daher nicht nur dann einen Rechtsbehelf einlegen können, wenn der ersuchende MS eine Überstellungsentscheidung erlässt, sondern auch, wenn dieser die Aufnahme ablehne. Das Interesse, das ein umF daran haben kann, zur Prüfung seines Antrags mit Mitgliedern seiner Großfamilie zusam‐ mengeführt zu werden, sei durch die Bestimmungen der Dublin‐VO und der Charta geschützt. Art. 27 Abs. 1 Dublin‐III‐VO i.V.m. Art. 7, 24 und 47 GR‐Charta verpflichte den MS, an den ein Aufnahmeantrag gestellt wurde, einem umF, der internationalen Schutz beantragt, ein Recht auf einen Rechtsbehelf gegen seine ablehnende Entscheidung zu gewähren. Gleiches gelte aber nicht für einen Verwandten des Minderjährigen, hier also den Onkel.

13

3. 01.08.2022 – C422/21 – T.O. ./. Italien (Innenministerium): Antragsteller auf internationalen Schutz dürfen nicht mit Entzug aller materiellen Aufnahmebedingungen sanktioniert werden, wenn sie dadurch ihrer elementarsten Bedürfnisse beraubt werden (zur Auslegung von Art. 20 Abs. 4 und 5 RL Aufnahmebedingungen – Nr. 2013/33/EU)

T.O., Antragsteller auf internationalen Schutz, wurden die in der RL Aufnahmebedingungen und den italienischen Normen garantierten materiellen Aufnahmebedingungen zunächst gewährt. Er lebte in einem Zentrum für vorübergehende Unterbringung. Die Polizei meldete einen Vorfall, bei dem T.O. einen Bahnmitarbeiter und zwei Beamte der Stadtpolizei verbal und körperlich angegriffen hatte. Nachdem T.O. versäumt hatte, sich nach Aufforderung zur Sache zu äußern, beschloss die zuständige Behörde, ihm die materiellen Aufnahmebedingungen zu entziehen.

Art. 20 Abs. 4 und 5 AufnahmeRL ermächtigen die MS, Sanktionen festzulegen, die bei schwerwiegen‐ den Verstößen gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und bei schwerwiegendem gewalt‐ tätigem Verhalten anzuwenden sind. Diese können auch Entzug oder Einschränkung der materiellen Aufnahmebedingungen umfassen. Aber: umfasst der Begriff „schwere Gewalttätigkeit“, der nach der RL geahndet werden kann, auch Handlungen die außerhalb eines Unterbringungszentrums begangen werden? Aus Sicht des EuGH umfasst der Begriff „schwere Gewalttätigkeit“ jedes derartige Verhalten, unabhängig davon, wo es sich ereignet hat.

Weiter wollte das italienische Gericht wissen, ob Art. 20 Abs. 4 und 5 RL es ausschließe, wenn ein Ast. auf internationalen Schutz ein schwerwiegendes gewalttätiges Verhalten gegen Beamte begangen hat, dies durch Entzug der materiellen Aufnahmebedingungen zu sanktionieren.

Der EuGH entschied: Die AufnahmeRL lässt keine Sanktionen in Form des Entzugs der materiellen Auf‐ nahmebedingungen für Personen zu, die internationalen Schutz beantragen und sich in Bezug auf Un‐ terkunft, Nahrung oder Kleidung schwerwiegend gewalttätig gegen Beamte verhalten haben, sofern dies dazu führen würde, dass ihnen die Möglichkeit genommen wird, grundlegendste Bedürfnisse zu befriedigen.

Alle anderen Sanktionen müssen den in der RL festgelegten Bedingungen entsprechen, einschließlich der Achtung der Menschenwürde und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Verweis auf C‐233/18 – Haqbin). Dem in der RL verankerten Prinzip der Verhältnismäßigkeit entspräche es nicht, wenn strengste Sanktionen einem Ast. die Möglichkeit nähmen, seine grundlegendsten Bedürfnisse zu be‐ friedigen, unabhängig davon, wie schwerwiegend und verwerflich sein Verhalten sei.

Die MS können – je nach den Umständen des Einzelfalls und vorbehaltlich der in der RL festgelegten Anforderungen – Sanktionen verhängen, die nicht dazu führen, dass dem Asylbewerber materielle Auf‐ nahmebedingungen vorenthalten werden, wie z. B. die Unterbringung in einem separaten Teil des Un‐ terbringungszentrums, das Verbot, mit bestimmten Bewohnern des Zentrums in Kontakt zu treten, die Verlegung in ein anderes Unterbringungszentrum oder in eine andere Unterkunft oder sogar die Inhaf‐ tierung.

4. 01.08.2022 – SW (C273/20), BL, BC (C355/20) und XC (C279/20) ./.Deutschland: Zur Familienzusammenführung mit (ehemals) minderjährigem Kind

Alle Verfahren betreffen syrische Staatsangehörige. SW, BL und BC beantragten nationale Visa zur Fa‐ milienzusammenführung mit ihrem jeweiligen Sohn, der in Deutschland als Flüchtling anerkannt war. XC beantragte ein Visum zur Familienzusammenführung mit ihrem in Deutschland als Flüchtling aner‐ kannten Vater. Alle Anträge wurden abgelehnt, weil die Kinder während des Antragsverfahrens voll‐ jährig wurden. Das VG Berlin verpflichtete Deutschland im Februar 2019 (15 K 936/17 V), die Visa zu erteilen, da alle Kläger nach der Rspr. des EuGH als Minderjährige anzusehen seien. Nach (Sprung‐) Revision des BAMF legte das BVerwG die Verfahren zur Vorabentscheidung dem EuGH vor.

Der EuGH erläutert (wie schon in den U. v. 12.04.2018, A. und S. ./. Niederlande, C‐550/16; und BMM u. a. ./. Belgien – C‐133/19, C‐136/19 und C‐137/19 – 16.07.2020 und 09.09.2021 – C‐768/19 – S.E. ./.

14

Deutschland), Ziel der RL sei, Familienzusammenführung zu begünstigen und insbesondere Minderjäh‐ rigen Schutz zu gewähren. Die RL sei im Licht des Rechts auf Achtung des Privat‐ und Familienlebens i.V.m. der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls auszulegen und anzuwenden. Weder mit den Zielen der RL noch mit den Anforderungen, die sich aus der EU‐GR‐Charta ergäben, stehe im Einklang, als maßgeblichen Zeitpunkt, nach dem sich die Beurteilung des Alters des Antragstellers oder des Zusammenführenden zur Gestattung des Nachzugs richte, darauf abzustellen, wann die Behörde des Mitgliedstaats über einen Antrag entscheide. Nationale Behörden und Gerichte hätten andernfalls keine Veranlassung, Anträge der Eltern Minderjähriger mit der Dringlichkeit, die geboten ist, um der Schutzbedürftigkeit Rechnung zu tragen, vorrangig zu bearbeiten. Sie könnten vielmehr so handeln, dass sie das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährden.

Es verstoße daher gegen Unionsrecht, ein Visum zur Familienzusammenführung für den Elternteil ei‐ nes während des Verfahrens volljährig gewordenen unbegleiteten mdj. Flüchtlings abzulehnen. Glei‐ ches gelte, wenn ein solcher Antrag von einem Kind gestellt wird, das volljährig wurde, bevor ein El‐ ternteil als Flüchtling anerkannt und Familienzusammenführung beantragt wurde.

Andernfalls hinge der Erfolg eines Antrags auf Familienzusammenführung hauptsächlich von Umstän‐ den ab, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen (mehr oder weniger zügigen Bearbeitung oder Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen eine Ablehnung), aber nicht von Umständen in der Sphäre des/der Antragstellenden. Deswegen sei der Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung für die Beurteilung der Minderjährigkeit nicht maßgebend. Minderjährigkeit stelle keine „Bedingung“ dar, bei deren Nichterfüllung ein MS den Antrag ablehnen könne. Die RL stehe auch einer nationalen Regelung entgegen, nach der das Aufenthaltsrecht der Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes ende.

Mit im Wesentlichen gleicher Argumentation entschied der EuGH in C‐279/20: Maßgebend für die Frage, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden noch minderjährig ist, wenn es vor Anerkennung des Elternteils als Flüchtling und vor dem Antrag auf Familienzusammenführung volljährig wurde, ist der Zeitpunkt, zu dem der Elternteil seinen Asylantrag gestellt hat. Der Antrag auf Zusammenführung muss innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des/der Zusammenführen‐ den gestellt werden.

Bei der Familienzusammenführung eines Elternteils und eines als Flüchtling anerkannten Minderjähri‐ gen oder eines (ehemals) mdj. Kindes mit seinem als Flüchtling anerkannten Elternteil genüge nicht die Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades bzw. das rechtliche Eltern‐Kind‐Ver‐ hältnis für die Annahme, dass tatsächliche familiäre Bindungen zwischen dem betreffenden Elternteil und dem betreffenden Kind bestehen, wenn das Kind vor Erlass der Entscheidung über den Antrag dieses Elternteils bzw. vor Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist.

Jedoch sei es nicht erforderlich, dass der Flüchtling und der andere Familienangehörige im selben Haushalt zusammenleben, damit Eltern oder Kind Anspruch auf Familienzusammenführung haben (so schon: EuGH U. v. 09.09.2021 – C – 768/19 – S.E. ./ Deutschland: Der Begriff „Familienangehöriger“ setze, um abgeleiteten internationalen Schutz zu erlangen, nach Art. 2 j QualifikationsRL 2011/95 i.V.m. Art. 23 Abs. 2 u. 7 EU‐GrCh kein tatsächliches Zusammenleben zwischen dem stammberechtig‐ ten Elternteil und seinem Kind voraus). Die Zuerkennung des Schutzstatus dürfe damit nicht von der „Wiederaufnahme des Familienlebens“ zwischen Eltern und Kind abhängig gemacht werden. Gele‐ gentliche Besuche und regelmäßige Kontakte können für die Annahme, dass sie persönliche und emo‐ tionale Beziehungen wiederaufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindun‐ gen ausreichen.

Anmerkung: Mit einer Weisung vom 09.09.2022 (Gz.: 508‐543.53/2) setzt das Auswärtige Amt die vor‐ zitierte Rechtsprechung um und weist seine Visastellen sinngemäß wie folgt an:

Beantragen Eltern Visa zum Nachzug zu einem Kind und ist dieses bei Entscheidung über den Visums‐ antrag nicht mehr minderjährig, gilt es weiter als minderjährig i.S.d. § 36 AufenthG, wenn

‐ das Kind z. Zt. seines Asylantrags minderjährig war,

15

  • ‐  z. Zt. seines Asylantrags unbegleitet war,
  • ‐  der Visumsantrag innerhalb von drei Monaten nach Flüchtlingsanerkennung des Kindes gestellt wird. Beantragt ein Kind ein Visum, um zu den Eltern nachzuziehen und wird volljährig, nachdem die Eltern Asyl beantragt haben, aber bevor es selbst sein Visum beantragen kann, gilt das Kind weiter als min‐ derjährig i.S.v. § 32 AufenthG, wenn der Visumsantrag innerhalb von drei Monaten nach Flüchtlingsa‐ nerkennung der Eltern gestellt wurde. Das BMI bezieht sich in seinen Hinweisen an die zuständigen Ministerien und Senatsverwaltungen der Länder (Rundschreiben vom 07.11.2022, M3‐21002/1#73) auf eine Weisung des AA vom 28.09.2022. Diese liegt hier nicht vor, scheint aber mit der vorzitierten gleichlautend zu sein.

5. 07.09.2022 – C624/20 – E.K. ./. Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (NL): Voraussetzungen für die Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigte/r

Eine Ghanaerin ist Mutter eines Sohnes mit niederländischer Staatsangehörigkeit und erhielt deshalb 2013 gem. Art. 20 AEUV eine Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande als Familienangehörige ei‐ nes Unionsbürgers aufgrund des bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses. 2019 beantragte sie nach den niederländischen Vorschriften zur Umsetzung der Daueraufenthaltsrichtlinie 2003/109/EG eine langfristige Aufenthaltsberechtigung. Die niederländischen Behörden lehnten ab, weil das Aufenthalts‐ recht als Familienangehöriger eines Unionsbürgers nur vorübergehender Natur und daher vom An‐ wendungsbereich der RL ausgeschlossen sei. Die Frau klagte. Das niederländische Gericht fragte den EuGH, ob die Aufenthaltsgenehmigung als Familienangehöriger eines Unionsbürgers die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ausschließe.

Der EuGH dazu: Nein! Ein Drittstaatsangehöriger, der ein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger ei‐ nes Unionsbürgers genieße, müsse die Voraussetzungen der RL erfüllen, um die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu erlangen. Über einen fünf Jahre langen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats unmittelbar vor der Stel‐ lung des entsprechenden Antrags hinaus müsse er daher den Nachweis erbringen, dass er für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen über feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne In‐ anspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des MS für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichten, sowie über eine Krankenversicherung verfüge, die in diesem MS sämtliche Risiken abdecke, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt seien. Ebenso könne der betreffende MS von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie die Integrationsan‐ forderungen erfüllen, die sein nationales Recht vorsehe. Das vorrangige Ziel der RL bestehe in der In‐ tegration von Drittstaatsangehörigen, die in MS langfristig ansässig seien. Eine solche Integration er‐ gebe sich vor allem aus der Dauer des ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalts von fünf Jahren.

Die RL schließe nur Drittstaatsangehörige vom Anwendungsbereich aus, die sich ausschließlich vo‐ rübergehend, etwa als Au‐pair, Saisonarbeitnehmer oder entsandte Arbeitnehmer, aufhalten oder de‐ ren Aufenthaltsgenehmigung förmlich begrenzt wurde. Ihr gemeinsames objektives Merkmal sei, dass diese Aufenthalte zeitlich streng begrenzt und auf kurze Dauer angelegt sind und nicht ermöglichen, dass ein Drittstaatsangehöriger langfristig im Hoheitsgebiet des betreffenden MS ansässig wird.

Im vorliegenden Fall sei das Aufenthaltsrecht der drittstaatsangehörigen Mutter als Familienangehö‐ rige eines Unionsbürgers gerechtfertigt, wenn der Aufenthalt erforderlich sei, damit dieser Unionsbür‐ ger den Kernbestand der Rechte, die ihm dieser Status verleihe, wirksam in Anspruch nehmen könne, solange das Abhängigkeitsverhältnis fortbestehe. Grundsätzlich sei dies nicht auf kurze Dauer ange‐ legt, sondern könne sich über einen beträchtlichen Zeitraum erstrecken. Im Hinblick auf das Abhängig‐ keitsverhältnis zwischen einem Drittstaatsangehörigen und seinem Kind, das Unionsbürger sei, könne die Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der MS deutlich über fünf Jahre hinausgehen.

16

6. 22.09.2022 – C497/21 – T.L., N.D., V.H., Y.T. und H.N. ./. Deutschland: Kein unzulässiger Folgeantrag bei früherem Asylverfahren in Dänemark (Vorabentscheidungsersuchen VG SchleswigHolstein)

Die Kläger des Ausgangsverfahrens, georgische Staatsangehörige, verließen Georgien 2017 und bega‐ ben sich nach Dänemark, wo sie Asyl beantragten. Dies wurde im April 2020 rechtskräftig abgelehnt. Das BAMF prüfte die später in Deutschland gestellten Asylanträge als „Zweitanträge“ i.S.d. § 71a AsylG und lehnte sie mit Bescheid vom 03.06.2021 nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig ab. Die Kläger hätten in Dänemark, das gem. Urteil vom 20.05.2021 – L.R. (C 8/20, EU:C:2021:404 – von Norwegen abgelehnter Asylantrag), als „sicherer Drittstaat“ im Sinne von § 26a AsylG anzusehen sei, bereits Asyl‐ anträge gestellt, die endgültig abgelehnt wurden. Die Voraussetzungen für ein weiteres Verfahren seien nicht erfüllt, da der Vortrag, den die Kläger zur Stützung ihrer Anträge geltend machten, keine Änderung der Sachlage im Vergleich zu jener erkennen lasse, auf die sie ihren von den dänischen Be‐ hörden abgelehnten Antrag gegründet hätten.

Nach Ansicht des VG Schleswig‐Holstein war zu klären, ob Art. 33 Abs. 2 Buchst. d i.V.m. Art. 2 Buchst. q RL 2013/32 anzuwenden ist, wenn in einem anderen MS eine bestandskräftige Entscheidung über einen früheren Antrag auf internationalen Schutz ergangen ist. Zwar sei Dänemark EU‐MS. Je‐ doch sei es nach dem Protokoll über die Position Dänemarks nicht durch RL 2011/95 und 2013/32 gebunden. Wie aus den Begriffsbestimmungen in Art. 2 RL 2013/32 und dem Urteil vom 20.05.2021, L. R. (von Norwegen abgelehnter Asylantrag – C‐8/20), hervorgehe, könne daher ein weiterer Antrag auf internationalen Schutz nur dann als „Folgeantrag“ i.S.d. RL eingestuft werden, wenn mit dem früheren Antrag desselben Antragstellers die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewäh‐ rung des subsidiären Schutzstatus nach der RL 2011/95 angestrebt wurde. Der Begriff „Mitgliedstaat“ i.S.d. RL 2013/32 sei einschränkend dahin auszulegen, dass er lediglich solche MS erfasse, die am GEAS beteiligt und durch RL 2011/95 und 2013/32 gebunden sind. Das treffe auf Dänemark nicht zu.

Dazu der EuGH: Ein in einem Dublin‐Staat außer Dänemark gestellter Folgeantrag darf nicht gemäß Art. 33 Abs. 2 lit. d) EU‐AsylverfahrensRL als unzulässig abgelehnt werden, wenn der frühere Asylantrag in Dänemark gestellt und abgelehnt wurde. Weder die QualifikationsRL noch die AsylverfahrensRL wer‐ den von Dänemark angewendet. Daher handelt es sich bei dem in Dänemark gestellten Antrag nicht um einen Asylantrag im Sinne von Art. 2 lit. b) der EU‐AsylverfahrensRL. Dies gilt sowohl für die Flücht‐ lingseigenschaft als auch für subsidiären Schutz nach der AnerkennungsRL gilt. (Anmerkung: Zu Nor‐ wegen – als Nicht ‐ EU‐MS ‐ hatte der EuGH die Frage im Urteil vom 20.05.2021 (C‐8/20) ähnlich ent‐ schieden.)

7. 22.09.2022 – C 245/21 und C 248/21 – Überstellungsfrist nach DublinIII wird nicht wegen COVID19Pandemie unterbrochen (Vorlage BVerwG, B. v. 26.01.2021 – 1 C 52.20)

In beiden Fällen hatten deutsche Behörden um Überstellung nach Italien ersucht. Die Durchführung musste ausgesetzt werden, weil sie während der COVID‐19‐Pandemie unmöglich war. Die Fragen zur Vorabentscheidung betrafen die Auslegung von Art. 27 Abs. 4 der Dublin‐III‐VO: Deckt die Norm die Situation ab, in der ein ersuchender MS während eines anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens be‐ schließt, die Vollstreckung ausschließlich aufgrund (vorübergehender) materieller Unmöglichkeit der Durchführung aufgrund der COVID‐19‐Pandemie auszusetzen und wird die Überstellungsfrist dadurch unterbrochen?

Der EuGH entschied, Art. 27 Abs.4 Dublin‐III‐VO sehe keine Unterbrechung oder Aussetzung der Über‐ stellungsfrist vor, sondern nur eine ausnahmsweise Möglichkeit der Verlängerung. Diese erfordere eine enge Auslegung und schließe die Anwendung auf andere Fälle der Unmöglichkeit der Vollstre‐ ckung der Überstellungsentscheidung aus. Zwar sehe Art. 27 Abs. 4 Dublin III VO vor, dass die Durch‐ führung einer Überstellung bis zum Abschluss eines Rechtsbehelfs oder einer Überprüfung ausgesetzt werden könne – aber nur im unmittelbaren Zusammenhang mit dem gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Person. Würde man den Anwendungsbereich von Art. 27 Abs. 4 Dublin III‐VO weiter aus‐ dehnen, könnte der in Art. 29 Abs. 1 genannten Überstellungsfrist jede Wirksamkeit genommen wer‐ den. Die in der VO vorgesehene Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den MS könne sich verändern und die Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz dauerhaft in die Länge zu ziehen.

17

Eine Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung mit der Begründung, diese sei aufgrund der COVID‐19‐Pandemie materiell unmöglich, könne aber nicht als unmittelbar mit dem Rechtsschutz ver‐ bunden angesehen werden. Die Überstellungsfrist werde daher nicht unterbrochen, wenn die zustän‐ dige Behörde eines MS eine widerrufliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung eines Überstellungsbeschlusses mit der Begründung trifft, diese sei aufgrund der COVID‐19‐Pandemie ma‐ teriell unmöglich. Der Unionsgesetzgeber sei nicht der Ansicht gewesen, dass die praktische Unmög‐ lichkeit, eine Überstellung durchzuführen, sich für eine Rechtfertigung der Unterbrechung oder der Aussetzung der in Art. 29 Abs. 1 Dublin‐III‐VO bezeichneten Überstellungsfrist eigne. Die VO solle viel‐ mehr eine zügige Bearbeitung von Asylanträgen garantieren, wozu der Unionsgesetzgeber die in An‐ wendung der Dublin‐III‐VO geführten Aufnahme‐ und Wiederaufnahmeverfahren mit einer Reihe zwingender Fristen versehen habe, um zu gewährleisten, dass die Verfahren ohne ungerechtfertigte Verzögerung durchgeführt werden.

8. 06.10.2022 – C241/2 – I.L. ./. Estland: RückführungsRL erlaubt keine Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen ohne klare Rechtsgrundlage

Gegenstand der Vorabentscheidung war die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 RückführungsRL. Das vorle‐ gende Gericht wollte insbesondere wissen, ob die Norm so auszulegen sei, dass die MS einen Dritt‐ staatsangehörigen allein auf Grundlage des Kriteriums „Gefahr einer Beeinträchtigung der Durchset‐ zung der Abschiebung“ in Gewahrsam nehmen dürfe, ohne dass einer der in den Normen definierten spezifischen Gründe für die Inhaftierung vorliege.

Der EuGH entschied, eine Inhaftierung nach der RückführungsRL sei nur „zur Vorbereitung der Rück‐ führung und/oder zur Durchführung des Abschiebungsverfahrens“ zulässig. Diese Maßnahme ziele da‐ rauf ab, die Wirksamkeit des Rückführungsverfahrens zu gewährleisten, und verfolge keinen strafen‐ den Zweck. Jede Inhaftierung dürfe nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen, den Anforderungen Klarheit, Vorhersehbarkeit und Schutz vor Willkür entsprechen und die Grundrechte der Drittstaatsangehörigen wahren. Gem. Art. 52 Abs. 1 GrCharta müsse jede Beschrän‐ kung der Ausübung des Rechts auf Freiheit gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt dieses Rechts achten und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen.

Ein allgemeines Kriterium, das sich auf die Gefahr stützt, dass die wirksame Durchsetzung der Abschie‐ bung beeinträchtigt wird, entspreche nicht diesen Erfordernissen. Aufgrund mangelnder Präzision ei‐ nes solchen Kriteriums könnten die Betroffenen nicht mit dem erforderlichen Maß an Sicherheit vor‐ hersehen, unter welchen Umständen sie in Gewahrsam genommen werden dürfen. So erfolge kein angemessener Schutz vor Willkür. Art. 15 Abs. 1 RüFüRL erlaube daher nicht, einen Drittstaatsangehö‐ rigen allein auf Grundlage eines allgemeinen Kriteriums „wegen der Gefahr einer Beeinträchtigung ei‐ ner wirksamen Durchsetzung der Abschiebung“ in Gewahrsam zu nehmen, ohne dass einer der in der Norm definierten spezifischen Gründe für eine Inhaftierung erfüllt ist.

18

9. 22.09.2022 – C159/21 – GM ./. Ungarn: Keine pauschale Aberkennung internationalen Schutzes aus Gründen der nationalen Sicherheit

Regelungen im ungarischen Recht, nach denen geheime Gründe der nationalen Sicherheit dazu führen sollen, internationalen Schutz in einem Aufnahmeland nachträglich abzuerkennen, die zuständige Asylbehörde aber nicht weiß, worum es geht, sondern pauschal verpflichtet ist, einem Hinweis auf solche geheimen Gründe zu folgen, sind nicht mit der VerfahrensRL und der QualifikationsRL vereinbar.

Sofern internationaler Schutz aberkannt werde, müssen der Betroffene oder jedenfalls sein Rechtsbei‐ stand Zugang zu den Verfahrensakten erhalten und Kenntnis vom wesentlichen Inhalt erlangen kön‐ nen. Die Verteidigungsrechte des Betroffenen werden nicht gewahrt, wenn ein solcher Zugang zwar auf Antrag gewährt werden könne, die erlangten Informationen aber in einem Verwaltungsverfahren oder in einem gerichtlichen Verfahren nicht verwendet werden dürften. Außerdem müsse die zustän‐ dige Asylbehörde eine Entscheidung über die Aberkennung internationalen Schutzes in Kenntnis aller relevanten Tatsachen und Umstände selbst prüfen und dürfe nicht pauschal dazu verpflichtet werden, zumal sie die zur Aberkennung des internationalen Schutzes führenden Gründe in ihrer Entscheidung anzugeben habe.

10. 20.10.2022 (C825/21) – UP ./. Belgien: RückführungsRL steht nationalen Normen nicht entgegen, nach denen ein Bleiberecht die stillschweigende Rücknahme einer Rückführungsentscheidung zur Folge hat

Den Antrag einer kongolesischen Asylbewerberin auf internationalen Schutz und Erteilung einer Auf‐ enthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen lehnten die belgischen Behörden ab. Sie wurde aufge‐ fordert, Belgien zu verlassen. Das Oberarbeitsgericht Lüttich stellte später fest, dass die Wirkung der Ausreiseverfügung vorübergehend ausgesetzt war, als die Klägerin zulässigerweise einen Antrag auf Aufenthalt stellte, aber später wieder vollziehbar wurde, als ihr keine Aufenthaltsbescheinigung mehr erteilt wurde. Die Klägerin machte geltend, dass sie nach ihrem Antrag auf Erteilung der Aufenthalts‐ erlaubnis berechtigt gewesen sei, sich „irregulär“ in Belgien aufzuhalten und die Ausreiseverfügung zurückzunehmen sei. Das belgische Gericht legte dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen zur Aus‐ legung der Art. 6 und 8 RL 2008/115 (RückführungsRL) vor.

Der EuGH entschied, aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 4 der RL ergebe sich, dass die MS Drittstaats‐ angehörigen, die sich unrechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten, nicht nur aus den ausdrücklich genannten Gründen, sondern aus jedem anderen Grund, den sie für angemessen halten, jederzeit ein Aufenthaltsrecht gewähren können und die MS insoweit über ein weites Ermessen verfügen. Außer‐ dem ergebe sich aus dem Wortlaut der RL, dass die Gewährung eines Aufenthaltsrechts die implizite Rücknahme einer zuvor erlassenen Rückführungsentscheidung zur Folge haben könne.

In früheren Urteilen, wie z. B. N (C‐601/15 PPU), habe der EuGH zwar festgestellt, dass die Wirksamkeit der RL die schnellstmögliche Durchführung von Abschiebungen erfordere. Diese Auslegung könne je‐ doch nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden, weil MS gem. letztem Satz der RL vorsehen können, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels die Aufhebung einer Rückführungsentscheidung zur Folge habe. Art. 6 Abs. 4 RL 2008/115 sei so auszulegen, dass er einer Regelung eines MS nicht entge‐ genstehe, nach der die Gewährung eines Aufenthaltsrechts für einen Drittstaatsangehörigen, der sich unrechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhält, bis zum Abschluss der Bearbeitung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Zulässigkeit dieses Antrags die stillschweigende Rück‐ nahme einer Rückführungsentscheidung zur Folge habe.

11. 08.11.2022 – C 704/20 und C 39/21: C und B. ./. Niederlande: Zum Prüfungsumfang bei den Voraussetzungen von Abschiebungshaft (Vorabentscheidungsersuchen NL – Gr. Kammer)

In den Verfahren ging es um Staatsangehörige aus Algerien, Sierra Leone und Marokko, die in den Niederlanden zur Vorbereitung ihrer Abschiebung inhaftiert wurden. Dagegen klagten sie. Nach An‐ sicht des niederländischen Gerichts existiert im Unionsrecht keine Pflicht, alle Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft von Amts wegen zu prüfen.

Dem widersprach der EuGH: Gerichte eines MS müssen alle Voraussetzungen der Abschiebehaft von Drittstaatsangehörigen von Amts wegen prüfen. Dazu gehört, ob Haft gegen einen Asylbewerber oder einen Drittstaatsangehörigen rechtmäßig ist, der sich illegal im Land aufhält. Dies gilt auch, wenn das Nichtvorliegen der haftbegründenden Umstände von der betroffenen Person im Verfahren nicht ge‐ rügt wurde, die Entscheidung über die Inhaftnahme durch die Behörde getroffen wird und das Gericht (nur) auf der Grundlage des Antrages, der vorgelegten Unterlagen und der mündlichen Verhandlung entscheidet. Ausgangspunkt ist, dass die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen einen schwerwie‐ genden Eingriff in dessen Recht auf Freiheit aus Art. 6 EU‐GRCh darstellt und nur unter den engen Voraussetzungen gerechtfertigt sein kann, die EU‐Normen (u. a. die RückführungsRL) daran knüpfen. Aus den unionsrechtlichen Bestimmungen zur Abschiebehaft i.V.m. Art. 6 (Recht auf Freiheit) und Art.47 EU‐GRCh (Garantie wirksamen Rechtsbehelfs) ergebe sich, dass Gerichte von Amts wegen et‐ waige Verletzungen der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Inhaftierung oder deren Aufrechterhal‐ tung zu prüfen haben. Seien die Voraussetzungen nicht oder nicht mehr erfüllt, sei die Person unver‐ züglich freizulassen.

19

12. 17.11.2022 – C 230/21 – X. ./. Belgien: Zur Auslegung von Art. 2 Buchst. f. und Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL Familienzusammenführung (2003/86/EG)

X., Palästinenserin, hat eine am 02.02.2001 geborene Tochter. Am 08.12.2016 heiratete diese damals 15 Jahre alte Tochter im Libanon Y.B. Am 28.08 2017 reiste die Tochter nach Belgien ein, um zu Y.B. zu ziehen, der dort über eine Aufenthaltserlaubnis verfügte. Am 29.08.2017 sah der belgische Vormund‐ schaftsdienst die Tochter als unbegleitete ausländische Minderjährige an und bestellte ihr einen Vor‐ mund. Am 20.09.2017 beantragte sie internationalen Schutz. Am selben Tag lehnte das Ausländeramt die Anerkennung der Heiratsurkunde mit der Begründung ab, dass es sich um eine Kinderehe handele. Eine solche Ehe gelte nach den Bestimmungen des belgischen Rechts über internationales Privatrecht als mit der öffentlichen Ordnung unvereinbar. Am 26.09.2018 wurde die Tochter dann als Flüchtling anerkannt. Am 18.12.2018 beantragte X. bei der belgischen Botschaft im Libanon ein Visum zur Fami‐ lienzusammenführung mit ihrer Tochter sowie humanitäre Visa für ihre minderjährigen Söhne Y. und Z. Die Anträge wurden abgelehnt.

X. klagte dagegen und machte geltend, weder das belgische Ausländergesetz noch die RL 2003/86 schrieben vor, dass ein Flüchtling unverheiratet sein müsse, damit das Recht auf Familienzusammen‐ führung mit seinen Eltern entstehe. Außerdem sei die Heiratsurkunde ihrer Tochter in Belgien nicht anerkannt worden, weshalb sie dort keine Rechtswirkungen entfalte. Ihre Tochter müsse nur zwei Vo‐ raussetzungen erfüllen, damit sie das Recht auf Familienzusammenführung mit ihren Eltern ausüben könne. Diese seien erfüllt, da ihre Tochter minderjährig und unbegleitet im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 sei. Das vorlegende belgische Gericht fragte:

1. Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86, dahin auszulegen, dass ein „unbegleiteter minderjähriger“ Flüchtling, der sich in einem MS aufhält, nach seinem nationalen Recht unverheiratet sein muss, damit ein Recht auf Familienzusam‐ menführung mit Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades entsteht?

2. Falls ja: Kann ein minderjähriger Flüchtling, dessen im Ausland eingegangene Ehe aus Gründen der öffentlichen Ordnung nicht anerkannt wird, als „unbegleiteter Minderjähriger“ i.S.d. Art. 2 Buchst. f und Art. 10 Abs. 3 RL 2003/86 angesehen werden?

Der EuGH entschied: Art. 10 Abs. 3 Buchst. a i.V.m. Art. 2 Buchst. f RL 2003/86/EG ist dahin auszulegen, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der sich in einem MS aufhält, nicht unverheiratet sein muss, um zur Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades die Rechtsstellung eines Zusammenführenden zu erlangen.

13. 22.11.2022 – C 69/21 – X. ./. Niederlande: Zu den Voraussetzungen der Abschiebung bei lebensbedrohlicher Erkrankung

Ein russischer Staatsangehöriger, 16 Jahre alt, ist an einer seltenen Form von Blutkrebs erkrankt und wird in den Niederlanden medizinisch behandelt, u. a. mit Cannabis zur Schmerzbekämpfung. Das ist in Russland verboten. Nach erfolglosen Asylanträgen sollte er nach Russland abgeschoben werden. Das niederländische Gericht fragte den EuGH, ob Unionsrecht dem Erlass einer Rückkehrentscheidung o‐ der einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehe, insbesondere, ob eine erhebliche Zu‐ nahme der Schmerzintensität aufgrund fehlender medizinischer Behandlung nach der Abschiebung gegen die GR‐Charta verstoße.

Der EuGH entschied, die RückführungsRL i.V.m. der GR‐Charta sei so auszulegen, dass sie der Rückkehr eines Drittstaatsangehörigen entgegenstehe, der sich irregulär in einem MS aufhält, an einer schweren Krankheit leidet und der Gefahr erheblicher Zunahme der durch Krankheit verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre, weil die einzig wirksame schmerzstillende Behandlung im Zielstaat verboten ist. Un‐ ter Achtung des Privatlebens, zu dem auch medizinische Behandlung gehöre, dürfe eine Rückkehrent‐ scheidung oder Abschiebung nur erfolgen, wenn der Gesundheitszustand des Betroffenen berücksich‐ tigt wurde. Als Schwelle für die Schwere der Erkrankung müsse es stichhaltige Gründe dafür geben, dass die Rückführung die reale Gefahr einer erheblichen Verringerung der Lebenserwartung oder einer raschen, erheblichen und dauerhaften Verschlechterung des Gesundheitszustands beinhalte und die fehlende Behandlung den Betroffenen der realen Gefahr einer raschen, erheblichen und dauerhaften

20

Zunahme der Schmerzen in einer solchen Intensität aussetzen würde, so dass es gegen die Menschen‐ würde verstieße, da es zu schweren und irreversiblen psychischen Folgen führen oder sogar zum Selbstmord verleiten könnte. Nicht erforderlich sei, dass sich die Krankheit selbst verschlimmert.

Obwohl das Rückführungsverbot auch gilt, wenn die Abschiebung im engeren Sinne nicht in einer Weise organisiert werden kann, die gewährleistet, dass die Gefahr einer erheblichen und dauerhaften Verschlimmerung der Krankheit oder der Schmerzen während der Abschiebung ausgeschlossen ist, könne nicht davon ausgegangen werden, dass eine angemessene Behandlung während der Abschie‐ bung ausreiche, damit ein MS eine Rückführungsentscheidung treffen darf. Der MS müsse dafür sor‐ gen, dass die Person nicht nur während der Abschiebung, sondern auch im Zielstaat nach der Abschie‐ bung die medizinische Versorgung erhält, die der Gesundheitszustand erfordert.

Ein MS dürfe keine strikte Frist vorgeben, innerhalb derer die Schmerzverstärkung eintreten müsse, um eine Rückführungsentscheidung oder Abschiebungsanordnung auszuschließen. Fristen entbänden nicht von der tatsächlichen Prüfung der Situation des Drittstaatsangehörigen unter Berücksichtigung aller relevanter Faktoren, insbesondere seines medizinischen Zustandes.

Zur Frage, ob MS in dieser Situation verpflichtet sind, einen Aufenthaltstitel zu erteilen, entschied der EuGH, die RückführungsRL enthalte keine Vorschrift über Aufenthaltsrechte. Der Gesundheitszustand des Betroffenen und die im MS erhaltene Versorgung zusammen mit anderen relevanten Faktoren (z. B. soziale Bindungen, Abhängigkeit und gesundheitliche Anfälligkeit) müssten von der Behörde bei der Prüfung, ob ein Aufenthaltsrecht zu gewähren sei, berücksichtigt werden.

Nach Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz forderte der Anwalt das BAMF auf, dem Ast. die vollständige Verwaltungsakte in Form einer einzigen Datei im PDF‐Format mit fortlaufender Pagi‐ nierung zu übermitteln. Das BAMF lehnte ab. Daraufhin beantragte er beim VG Wiesbaden eine einst‐ weilige Anordnung. Das VG (6 L 582/21.WI.A 6 L 582/21.WI.A) fragte mit Vorabersuchen den EuGH, ob ein faires (Asyl‐)Verfahren gewährleistet sei, wenn Zugang zur vollständigen elektronischen Behörden‐ akte nicht so gewährt wird, wie es den Beschäftigten des BAMF möglich ist, nicht aber dem VG oder einem Anwalt, sowie, ob bei einer im Original unterschriebenen Entscheidung, die nach Einscannen vernichtet wird, weiter Schriftlichkeit der Entscheidung nach Art. 11 Abs. 1, 45 Abs. 1 lit. a) Asylverfah‐ rensRL anzunehmen sei.

Dazu der EuGH: Die AsylverfahrensRL schütze das Recht auf Akteneinsicht in Verfahren auf internatio‐ nalen Schutz und setze den Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes um, indem sie sicher‐ stelle, dass ein wirksamer Rechtsbehelf eine vollständige und ex‐nunc‐Prüfung sowohl des Sachver‐ halts als auch der Rechtsfragen ermögliche. Das Recht auf faires Verfahren gem. Art. 47 Gr‐Charta verpflichte dazu, Verwaltungsakten auch in elektronischer Form vollständig und paginiert vorzulegen, so dass evtl. Änderungen nachvollziehbar sind.

Aber: Auf EU‐Ebene gebe es keine einheitliche Norm für die Übermittlung. Unionsrecht verwehre na‐ tionalen Verwaltungen nicht, dem Vertreter des Ast. eine Kopie der elektronischen Akte in Form einer Reihe separater Dateien im PDF‐Format ohne fortlaufende Pagnierung zu übermitteln, deren Struktur mit einer kostenlosen, im Internet frei zugänglichen Software eingesehen werden könne, unter zwei Voraussetzungen: 1) die Art der Offenlegung gewährleistet Zugang zu allen Informationen, die für die Verteidigung von Bedeutung sind; 2) die Übermittlung bietet eine möglichst getreue Darstellung von Struktur und Chronologie der Akte, vorbehaltlich der Fälle, in denen öffentliches Interesse eine Offen‐ legung bestimmter Informationen hindert.

Es sei Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob eine möglichst getreue Wiedergabe der Struktur und Chronologie der Akte in den verschiedenen Schriftstücken gewährleistet ist, so dass der Vertreter des Ast. prüfen kann, ob alle für seine Verteidigung relevanten Schriftstücke enthalten sind, und ggf. die Offenlegung fehlender Schriftstücke oder des Grundes für ihr Fehlen verlangen kann.

21

14. 01.12.2022 – C564/21 – B.U. ./. Deutschland: Zu den Voraussetzungen wirksamer elektronischer Übermittlung der Asylakte

Die handschriftliche Unterschrift des zuständigen Beamten, der die Entscheidung getroffen hat, sei nicht erforderlich, um als schriftlich übermittelt zu gelten. Es müsse sich nur um eine ausdrückliche Entscheidung handeln.

15. 22.12.2022 – C237/21 – Zu den Voraussetzungen der Auslieferung eines Unionsbürgers an einen Drittstaat zum Strafvollzug

22

Bosnien und Herzegowina hat Deutschland um die Auslieferung eines Bosniers zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ersucht. Der Betroffene ist Unionsbürger, da er auch die kroatische Staatsbürgerschaft besitzt. Nach Auffassung des OLG München ist Deutschland wegen der im Rahmen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens gegenüber Bosnien eingegangenen Verpflichtungen grundsätzlich zur Auslieferung verpflichtet. Fraglich sei jedoch, ob Unionsrecht einer Auslieferung entgegensteht im Hin‐ blick auf das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der MS frei zu bewegen und aufzuhalten sowie angesichts des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.

Art. 16 Abs. 2. S. 1 GG verbietet die Auslieferung eines Deutschen an einen Drittstaat. Unter solchen Umständen erlaubt Unionsrecht Ungleichbehandlung zwischen Deutschen und Staatsangehörigen an‐ derer MS nur, wenn diese auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht. Aufgrund seiner Zweifel hat sich das OLG München an den EuGH gewandt: Die deutschen Behörden hätten die kroatischen über das Aus‐ lieferungsersuchen in Kenntnis gesetzt, ohne dass diese hierauf reagiert hätten. Wenn Bosnien und Herzegowina zustimme, könne nach deutschem Recht der Betroffene seine Strafe in Deutschland ver‐ büßen.

Der EuGH entschied, dass sich der ersuchte MS (Deutschland) in einer solchen Situation aktiv um diese Zustimmung bemühen müsse, damit die Strafe in seinem Hoheitsgebiet verbüßt wird und so der Ge‐ fahr der Straflosigkeit entgegengewirkt werden kann, wenn gegen den betroffenen Bürger eine Maß‐ nahme ergriffen wird, durch die seine Freizügigkeit weniger beeinträchtigt wird als durch seine Auslie‐ ferung an einen Drittstaat.

Werde diese Zustimmung nicht erteilt, stehe jedoch das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der MS frei zu bewegen und aufzuhalten sowie das Diskriminierungsverbot einer Auslieferung in An‐ wendung eines völkerrechtlichen Übereinkommens nicht entgegen. Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass der Betroffene straflos bliebe. Eine Auslieferung bleibe jedoch nach der EU‐GRCharta ausge‐ schlossen, wenn im Drittstaat für den Betroffenen das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung bestehe.

C. Politische Entwicklungen

I. Diskussionen und Entscheidungen auf EUEbene

1. EUKommission: Migrationsund Asylbericht 2022 – 6. Oktober 2022

Die aus Sicht der Kommission „wichtigsten“ Entwicklungen im Bereich Migration und Asyl werden dar‐ gelegt und eine Bestandsaufnahme der „Fortschritte“ vorgenommen, die angeblich 2022 „im Rahmen des neuen Migrations‐ und Asylpakets“ erzielt wurden. Ferner werden die „wichtigsten künftigen Her‐ ausforderungen“ aufgezeigt, und „die Notwendigkeit weiterer Fortschritte auf dem Weg zu einem ver‐ antwortungsvollen und fairen Migrationsmanagementsystem in der EU“ betont.

Hervorgehoben wird die „beispiellose Solidarität mit der Ukraine“: Die MS hätten Millionen von Men‐ schen, die vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geflohen sind, in noch nie da gewese‐ nem Umfang willkommen geheißen, u. a. durch erstmalige Aktivierung der RL über vorübergehenden Schutz, die Einrichtung einer Solidaritätsplattform und die Umsetzung eines Zehn‐Punkte‐Plans für eine koordinierte europäische Reaktion.

2. „Dringlichkeitssitzung“ der Innenminister der EUStaaten – 25.11.2022

23

Vizepräsident Schinas: „Die EU hat in Situationen, in denen sie mit dramatischen Ereignissen konfron‐ tiert war, die erhebliche Auswirkungen auf Migration, Asyl und Grenzmanagement hatten, die gemein‐ same Stärke und den kollektiven politischen Willen bewiesen, rasch und entschlossen zu handeln. Au‐ ßerhalb der EU kann unser entschlossenes und vereintes Handeln beeindruckende Ergebnisse liefern. Innerhalb der EU muss die Art der Solidarität, die wir den Ukrainerinnen und Ukrainern gezeigt haben, auch in unserer Migrationsdebatte weiterhin präsent sein und als Inspiration für unsere künftigen Maßnahmen dienen.“ Gefordert wird dazu:

„Gewährleistung des Außengrenzenmanagements“ als zentrales Element. Erreicht werden soll dies „durch Implementierung der neuen IT‐Architektur und ‐Interoperabilität, durch wichtige Schritte zum Aufbau eines gemeinsamen EU‐Rückkehrsystems, u. a. durch Ernennung eines Rückkehrkoordinators und Durchsetzung einer strategischen und strukturierten Visumpolitik“ – was immer auch man sich im Detail darunter vorzustellen haben mag.

Zusammenarbeit mit internationalen Partnern: 2022 habe die EU ihre Bemühungen um eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit im Bereich Migration intensiviert. Die EU sei ein führender globa‐ ler Akteur und Geber bei der Verbesserung des Schutzes und der Unterstützung von Vertriebenen und ihren Aufnahmeländern, bei der Rettung von Menschenleben (Anmerkung: siehe dazu unten: Die reale Lage auf den Migrationsrouten!!) und bei der Schaffung der Grundlagen für dauerhafte Lösungen. „Fortschritte bei der Lösung von Problemen in den Bereichen Rückkehr, Rückübernahme, Grenzma‐ nagement und Schleusernetze“ seien erzielt worden mithilfe von Partnerschaften mit wichtigen Dritt‐ ländern, die ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen jener Staaten und denen der EU herstellen.

„Abwehr hybrider Bedrohungen“: Eine rasche, entschlossene und geeinte Zusammenarbeit der EU mit ihren Partnern könne beeindruckende Ergebnisse liefern, wie die Reaktion auf die Instrumentali‐ sierung von Migranten durch das belarussische Regime gezeigt habe. Die Kommission hat mit Her‐ kunfts‐ und Transitländern sowie mit Luftfahrtunternehmen und Zivilluftfahrtbehörden zusammenge‐ arbeitet, um eine Koalition zur Bekämpfung dieses hybriden Angriffs aufzubauen.

Weitere Schritte: Im Mai nahm der Rückkehrkoordinator bei der Kommission seine Arbeit auf, um ein kohärenteres und wirksameres Vorgehen für Rückkehr und Rückführungen zu fördern. Im Juni einigten sich die MS auf Verhandlungsmandate für Screening‐VO und Eurodac‐VO. Die Vorschläge sollen an‐ geblich zu besseren und wirksameren Verfahren zur Bekämpfung der irregulären Migration, zur Erhö‐ hung der Zahl der Rückkehrer und zur besseren Unterstützung des Asylsystems führen. Ebenfalls im Juni erfolgte die politische Einigung der MS im Rat, mit der Umsetzung des freiwilligen Solidaritätsme‐ chanismus zu beginnen. Was „besser“ i.S.d. Berichts meint, wird nicht näher ausgeführt. Jedenfalls soll so „die solidarische Aufnahme von Menschen durch Länder mit verfügbaren Aufnahmekapazitäten ge‐ währleistet“ werden. Als wichtigste nächste Schritte fordert die Kommission die MS auf, den „freiwil‐ ligen Solidaritätsmechanismus“ anzuwenden. Zudem ersucht sie Parlament und Rat, den gemeinsa‐ men Fahrplan umzusetzen, damit alle vorgelegten Vorschläge bis März 2024 angenommen werden können.

Im Juni hatten zwei Drittel der EU‐Staaten ihr Einverständnis erklärt, am „freiwilligen Solidaritätsme‐ chanismus“ teilzunehmen, der an eine funktionierende Seenotrettung gebunden ist, um die Ankunfts‐ länder am Mittelmeer zu entlasten. Im November zerstritten sich die Regierungen in Rom und Paris über die Aufnahme Schiffbrüchiger. Der französische Innenminister Darmanin verlangte daraufhin eine Dringlichkeitssitzung. Diese wurde so kurzfristig angesetzt, dass zahlreiche Ministerinnen und Minister (u. a. BMI Faeser) nicht erschienen. Unmittelbarer Anlass war die Weigerung der italienischen Regie‐ rung, ein privates Rettungsschiff, das unter französischer Flagge fährt, in Italien anlanden zu lassen. Daraufhin widerrief der französische Präsident Macron das Versprechen, 3.500 in Italien gelandete Flüchtlinge zu übernehmen. Die neue italienische Regierung fordert, dass die Flaggenstaaten der Schiffe alle Geretteten aufnehmen. MP Meloni dazu: „Die Selektion wird auf See von den Schleppern durchgeführt, die die Migrantenboote betreiben. Das ist nicht länger hinnehmbar. Wir müssen diesen Handel stoppen. Italien kann nicht das einzige Land sein, das die Kosten für die Migrationswellen aus Afrika zu tragen hat“. Italien bekam dafür Unterstützung von Griechenland, Malta und Zypern. In einer gemeinsamen Erklärung lehnten diese MS es ab „die einzigen Anlandungsplätze für illegale Migranten“

24

zu sein, insbesondere, wenn dies unkoordiniert auf Basis der Entscheidung privater Schiffe geschehe und unabhängig von staatlichen Stellen. Die neue italienische Regierung will das Prinzip, Menschen in Seenot im nächsten Hafen zu helfen, aushebeln. Unter anderem forderte sie einen „Verhaltenscodex“ für NGOs, der diese u. a. verpflichten sollte, nicht in libysche Gewässer zu fahren. Ferner schlug sie eine Seeblockade im Mittelmeer und Lager in Nordafrika vor, in die Migranten gebracht werden, um dort ihre Asylchancen in Europa zu prüfen.

Die EU‐Kommission legte zur Dringlichkeitssitzung einen „Aktionsplan“ für die Mittelmeerroute vor. Punkt 1: Menschen die in Ägypten, Tunesien und Libyen mithilfe von Fluchthelfern die Überfahrt übers Mittelmeer planen, sollen zur Heimkehr bewegt werden. Punkt 2: Zusammenarbeit der Retter im Mit‐ telmeer soll besser koordiniert werden, dabei sollen auch die Regeln für private Rettungsschiffe disku‐ tiert werden. Punkt 3: Der freiwillige Solidaritätsmechanismus soll in Gang gebracht, Verfahren zur Verteilung sollen schneller werden, Herkunftsländer mehr Migranten zurücknehmen, Küsten‐ und Flaggenstaaten sich enger austauschen.

NGO’s, aber auch verschiedene Regierungsvertreter kritisierten den Plan, weil er keine neuen Ideen enthalte.

Die Bundesregierung hatte im Oktober entschieden, einer NGO zur Seenotrettung (Sea Eye, Sea Watch und SOS Humanity) in den nächsten vier Jahren mit jeweils 2 Mio. Euro zu unterstützen – finanziert aus dem Etat des Außenministeriums. Deutschland hatte zugesagt, im Rahmen des Solidaritätsmecha‐ nismus 3.500 Plätze bereitzuhalten – wie Frankreich. Insgesamt waren 8.000 Plätze für 2022 vorgese‐ hen. Die Bilanz bis Ende November: lediglich 117 Menschen wurden umverteilt, davon 74 auf Deutsch‐ land – so EU‐Innenkommissarin Johansson. Begründet wird das mit schwerfälligen Auswahl‐ und Über‐ prüfungsverfahren. Es hat aber auch mit Misstrauen gegenüber den Aufnahmeländern zu tun. Der Vor‐ wurf: Sie registrieren nicht alle Migranten ordnungsgemäß und lassen sie unregistriert in Länder ihrer Wahl weiterziehen. So wurden z.B. in Italien 60.000 Asylanträge registriert, während es über 93.000 (nach neusten italienischen Angaben: 98.000) Ankünfte gab.

Das größte Strafverfahren im Zusammenhang mit Italiens hartem Vorgehen gegen zivile Rettungs‐ kräfte wurde zum dritten Mal eingestellt – fünf Jahre nach der Einleitung. Es geht um 21 Personen, darunter Besatzungsmitglieder des Such‐ und Rettungsschiffs Iuventa sowie Vertreter anderer NGOs wie Sea Watch, Save the Children und Ärzte ohne Grenzen (MSF), die wegen „Beihilfe zur unerlaubten Einwanderung“ mit bis zu 20 Jahren Haft rechnen müssen. Die Iuventa‐Crew hat dazu beigetragen, das Leben von 14.000 Menschen zu retten, bevor ihr Schiff 2017 beschlagnahmt wurde.

3. Westbalkanroute/EUVerhandlungen mit Albanien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Serbien, um die Zusammenarbeit mit Frontex zu erweitern

Von Januar bis August 2022 wurden mehr als 86.000 irreguläre Grenzübertritte gezählt, fast dreimal mehr als 2021 und mehr als zehnmal so viel wie im selben Zeitraum 2019. Angesichts dieses Anstiegs beobachtet die EU‐Kommission die Lage mithilfe des EU‐Vorsorge‐ und Krisenmanagementnetzes für Migration („Blueprint Network“) und verstärkt ihre Zusammenarbeit mit Staaten im Westbalkan sowie mit den am stärksten betroffenen EU‐MS. Der Aktionsplan der EU‐Kommission für die Region kon‐ zentriert sich auf Grenzmanagement, Rückführung und Rückübernahme in Drittstaaten.

Österreichs Bundeskanzler Nehammer fordert von der EU die Finanzierung von Grenzzäunen in Rumä‐ nien, Bulgarien und Ungarn, um illegale Einwanderung zu unterbinden: „Wir müssen endlich das Tabu Zäune brechen“ sagte er beim EU‐Gipfel im Dezember.

Am 18.11.2022 genehmigte der EU‐Rat die Aufnahme von Verhandlungen mit Albanien, Bosnien ‐ Her‐ zegowina, Montenegro und Serbien, um die Vereinbarungen über die Zusammenarbeit mit Frontex zu erweitern. Die Herausforderungen der Migration auf der Westbalkanroute begönnen nicht an den EU‐ Grenzen. Die Zusammenarbeit, auch durch Entsendung von Frontex‐Mitarbeitern, sei unerlässlich, um irreguläre Migrationsbewegungen frühzeitig zu erkennen und zu unterbinden.

Im Vorfeld des ersten Gipfeltreffens zwischen der EU und den westlichen Balkanstaaten veröffentlichte die EU‐Kommission einen Aktionsplan zur Verstärkung der Zusammenarbeit mit der Region, um „ge‐ meinsame Herausforderungen“ zu bewältigen, die sich aus der Zunahme der Ankünfte aufgrund der

25

Visafreiheit und der „Migrantenströme“ über die östliche Mittelmeerroute ergeben. Der Plan enthält eine Reihe von Maßnahmen, die sich auf fünf Säulen stützen: (1) Stärkung des Grenzschutzes entlang der Routen; (2) zügige Asylverfahren und Unterstützung der Aufnahmekapazitäten; (3) Bekämpfung der Schleuserkriminalität; (4) Verbesserung der Zusammenarbeit bei der Rückübernahme und Rück‐ führung sowie (5) Angleichung der Visumpolitik.

Die EU hatte bereits im Rahmen des vorherigen Frontex‐Mandats Abkommen mit Albanien, Mon‐ tenegro und Serbien geschlossen. Diese erlaubten Frontex jedoch nur, gemeinsame Operationen durchzuführen und Teams in den an die EU angrenzenden Regionen dieser Länder einzusetzen. Frontex ist an den EU‐Grenzen zu Albanien, Serbien und Montenegro im Einsatz, nicht aber an der zu Bosnien‐Herzegowina. Ein Abkommen mit diesem Staat war damals noch nicht unterzeichnet worden.

Aus der Pressemitteilung zum Ratsbeschluss: „Die im Rahmen des neuen Frontex‐Mandats ausgehan‐ delten Abkommen werden es Frontex ermöglichen, diese Länder bei ihren Bemühungen zur Steuerung der Migrationsströme, zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung und zur Bekämpfung der grenz‐ überschreitenden Kriminalität in ihrem gesamten Hoheitsgebiet zu unterstützen. Die neuen Abkom‐ men werden es den Frontex‐Mitarbeitern auch ermöglichen, Exekutivbefugnisse auszuüben, wie etwa Grenzkontrollen und die Registrierung von Personen. Auf der Grundlage dieser Mandate kann die Kom‐ mission nun Verhandlungen mit den vier Ländern aufnehmen“.

In der Zwischenzeit steht Frontex bereit, um die GD Migration und Inneres bei der Reduzierung der „irregulären Ströme in den westlichen Balkanländern“ zu unterstützen. „Frontex verfügt derzeit über 500 Beamte in der westlichen Balkanregion. Wir sind bereit, zusätzliche Unterstützung zu leisten, um die irregulären Ströme zu reduzieren und die grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen, ein‐ schließlich des Schusswaffenhandels und des Menschenschmuggels“, twitterte die Frontex‐Leitung.

Als Ergebnis des Gipfeltreffens am 6. Dezember wurde die „Erklärung von Tirana“ vereinbart, die eine Aufstockung der finanziellen Unterstützung um mehr als 170 Mio. Euro vorsieht, um die irreguläre Migration auf der Westbalkanroute zu bekämpfen, einschließlich der Bekämpfung der Schleuserkrimi‐ nalität und des Menschenhandels, und um die Rückführungssysteme, einschließlich der Rückübernah‐ meprogramme, zu verbessern.

4. Keine Einigung über Instrumentalisierungsverordnung

Der Vorschlag zur Instrumentalisierungs‐VO definiert Instrumentalisierung von Migrationsströmen als Situation, in der ein Drittland oder ein nichtstaatlicher Akteur die Bewegung von Drittstaatsangehöri‐ gen in Richtung der Außengrenzen der EU oder eines MS fördert oder erleichtert, um die EU als Ganze oder den MS zu destabilisieren (z. B.: Belarus in Richtung auf Polen und Litauen). Es sollen neue Maß‐ nahmen zur Bekämpfung dieses Phänomens eingeführt werden, u. a. weniger Übergänge an den Au‐ ßengrenzen oder die Beschränkung ihrer Öffnungszeiten sowie die Intensivierung der Grenzüberwa‐ chung.

Bei der Tagung des Rates „Justiz und Inneres“ am 08.12.2022 wurde keine Einigung über die VO erzielt. Der Rat nahm „Fortschritte“ zur Kenntnis, die während des tschechischen Ratsvorsitzes gemacht wur‐ den, jedoch fand sich keine Mehrheit für den letzten Kompromissvorschlag des Ratsvorsitzes. Lettland und Litauen unterstützten den Kompromiss. Der Stimme enthalten oder gegen den Vorschlag ge‐ stimmt haben: Belgien, Portugal, Deutschland, Luxemburg. Spanien und die Niederlande äußerten Be‐ denken. Griechenland, Malta und Ungarn stimmten aus anderen Gründen dagegen.

1. Ostgrenze zu Belarus

26

II. Zur Situation an den Außengrenzen – Juli bis Dezember 2022

Die Lage sei nach wie vor stabil – so der Bericht der EU‐Kommission. Irreguläre Grenzübertritte wurden deutlich seltener registriert als 2021. Nach polnischen Angaben seien „nur“ ca.15.900 „illegale“ Grenz‐ übertritte nach Polen erfolgt (2021: ca. 40.000).

„Ärzte ohne Grenzen“, die ihre Mission in Litauen zum Jahresende 2022 beendet haben, teilten mit, zwar kämen immer noch zahlreiche Menschen, in den riesigen Wäldern können die Helfer sie aber praktisch nicht erreichen. Mehrere 100 Personen versuchten – so Ärzte ohne Grenzen – jeden Monat, über Litauen in die EU zu gelangen. Litauen und Polen haben 2022 Stahlmauern und Stacheldraht‐ Zäune fertig gebaut. Lettland arbeitet noch daran. Griffe die Grenzpolizei Flüchtlinge in Litauen auf, würden sie ohne weiteres Verfahren oder die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, nach Belarus zurückge‐ drängt. Es gebe „bis zu 100 % Pushbacks.“

Auf Mauern, Stahl und Stacheldraht setzt auch Polen und schloss im Juni 2022 den Bau eines 187 km langen Grenzzauns zu Belarus ab. Der Zaun ist 5,5 m hoch, mit Nachtsichtkameras und Bewegungsmel‐ der ausgestattet.

Polnische Gerichte haben in Einzelfällen geurteilt, dass die „Pushbacks“ an der polnischen Grenze rechtswidrig waren. Auch der polnische Ombudsmann für Bürgerrechte hat die Praxis verurteilt. Die NGO Helsinki‐Komitee hat Leitfäden an polnische Grenzschutzbeamte verteilt, in denen zusammenge‐ stellt ist, wie diese sich strafbar machen, wenn sie humanitäre Hilfe verweigern.

2. Westbalkanroute: Österreich, Ungarn und Serbien beschließen Maßnahmen gegen illegale Migration

a) Österreich, Serbien und Ungarn, die sich als „Frontlinie“ der Westbalkanroute sehen, haben eine Vereinbarung unterzeichnet, um „die Grenzsicherung auf dem Balkan zu verstärken“ und „den Migranten zu zeigen, dass sie die Grenze nicht überqueren können“, da „das Asyl‐ system der EU versagt hat“. Die beiden EU‐Staaten sagten deswegen Serbien bei einem ge‐ meinsamen „Migrationsgipfel“ am 12.12.2022 in einem Abkommen zur „Verstärkung der Grenzsicherung“ u. a. zu, sich an den Abschiebekosten für illegal Eingewanderte zu beteili‐ gen. Österreich will zudem 100 Polizisten nach Serbien schicken, die in Teams mit serbischen Beamten die Grenze zu Nordmazedonien kontrollieren sollen. Hierfür soll auch technische Ausrüstung, z. B. Nachtsichtgeräte und Fahrzeuge, bereitgestellt werden. Serbien sagte zu, die visafreie Einreise für Menschen aus Burundi, Tunesien und Indien zu beenden. Migranten aus diesen Staaten nutzten bisher die Visafreiheit, um nach Belgrad zu fliegen und anschlie‐ ßend auf dem Landweg zu EU‐Außengrenzen zu gelangen. Österreich und Ungarn erhoffen sich nun weniger illegale Einreisen aus diesen Ländern über Serbien.

Österreichs Bundeskanzler Nehammer sagte, das Asylsystem der EU sei gescheitert. Man sei an einem Punkt angekommen, an dem einzelne EU‐Staaten nach neuen Formen der Partner‐ schaft außerhalb der EU suchen müssten. Er erklärte weiter, dass in Österreich bis Ende 2022 möglicherweise mehr als 100.000 Asylanträge gestellt werden könnten (2021: ca. 40.000). Österreich macht Menschen auf der Flucht aus Indien und nordafrikanischen Ländern für die „Asylwelle“ verantwortlich und bittet die EU um Hilfe. Österreich sieht Indien und Tunesien als „sichere“ Länder an. Menschen aus beiden Ländern „haben praktisch keine Chance auf Asyl“. Kommissionspräsidentin von der Leyen sagte, die Sorgen Österreichs seien berechtigt und fügte hinzu, dass „Österreich außergewöhnlich stark betroffen ist. Österreich bitte zu Recht um Solidarität und braucht Hilfe“.

Der serbische Präsident Vucic: „Wir sind bereit, gemeinsam mit Nordmazedonien weiter nach Süden vorzurücken und so sowohl Europa als auch unser eigenes Land zu schützen.“ 2022 reisten ca. 70.000 Migranten nach Serbien ein, nach Angaben des Asylbewerberschutzzent‐ rums (APC) wurden seit Frühjahr täglich zwischen 600 und 1.000 Menschen von ungarischen Grenzschützern zurückgedrängt.

27

Die Menschen nutzen Serbien als Haupttransitroute in die EU. Es kommt zu Pushbacks nach Serbien aus verschiedenen Mitgliedsstaaten. Daher haben informelle Siedlungen im Grenz‐ gebiet zwischen Serbien und den EU‐Außengrenzen an Größe und Zahl zugenommen. Die meisten Migranten lassen sich in informellen, überfüllten Unterkünften unter schlechten Le‐ bensbedingungen entlang der ungarischen Grenze nieder, anstatt in überfüllten serbischen Zentren kontrolliert zu werden. Frach Collective, eine der NGOs vor Ort, erklärte: „Hunderte von Menschen auf der Flucht leben immer noch in Orten aus verlassenen Häusern, Zelten und anderen Behelfsunterkünften. Die Bedingungen, vor allem angesichts der sinkenden Temperaturen, sind katastrophal und werden durch Polizeigewalt und gefährliche Versuche, den Grenzzaun zu Ungarn zu überwinden, verschärft.“

Ungarns MP Orban: Ungarn habe 2022 etwa 250.000 Versuche des irregulären Grenzüber‐ tritts verzeichnet: „Wir müssen die Migration nicht steuern, wir müssen sie stoppen. Wir müssen ihnen (den Migranten) zeigen, dass sie die Grenze nicht überschreiten können.“

b) Position von Frontex auf der Westbalkanroute:

In den ersten zehn Monaten 2022 wurden laut Frontex 22.300 irreguläre Einreisen über die Route festgestellt – ca. dreimal so viele wie 2021 und die höchste Zahl seit 2015. Dies sei auf wiederholte Grenzübertrittsversuche von Migranten zurückzuführen, die sich bereits auf dem Westbalkan aufhalten, aber auch auf Personen, die den visumfreien Zugang zur Region „missbrauchen“.

Ein Beispiel für die Ignoranz von Frontex gegenüber Warnungen hinsichtlich der Einhaltung von Menschenrechten ist der Frontex Einsatz in Ungarn. Lighthouse veröffentlichte Anfang 12/2022 Aufnahmen von „Black Sites“‐Containern, aufgestellt an der Grenze zu Serbien. Dort wurden dem Bericht zufolge Flüchtlinge ohne Essen und Wasser festgehalten und manchmal mit Pfefferspray angegriffen, bevor sie in Gefängnisbussen abgeschoben werden.

Frontex arbeitet ununterbrochen seit 2015 in Ungarn, obwohl die Frontex‐Grundrechtsbe‐ auftragte Arnáez schon 2016 schrieb, dass die zur Abschiebung aus der „Transitzone“ „ein‐ gesetzten Zwangsmaßnahmen (etwa Schläge, Hundebisse, Pfefferspray) zu Vorfällen geführt haben, die das Recht auf Menschenwürde, das Recht auf Leben, das Recht auf Unversehrtheit der Person und das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gefährden.“ Arnáez verwies auf vielfache entsprechende Berichte, u. a. von UNHCR. Am 19.01.2021 insis‐ tierte sie erneut: In einem Brief an Leggeri empfahl sie, „die operativen Maßnahmen an den Landgrenzen in Ungarn „auszusetzen oder zu beenden (…), da es immer wieder zu schweren Grundrechtsverletzungen kommt“. Eine Woche später stoppte Frontex seine Ungarn‐Mission – allerdings nur „am Boden“, wie der Frontex Sprecher sagte. Dahinter verbarg sich, dass Frontex bis heute, entgegen der Forderung der Grundrechtsbeauftragten, Hilfe zur Abschie‐ bung aus Ungarn leistet – nur nicht direkt über die Grenze nach Serbien.

Das ungarische Helsinki‐Komitee veröffentlichte eine Studie, um auf „die besorgniserregende Praxis der Nichtumsetzung von Urteilen im Bereich Asyl und Migration in Tschechien, Ungarn, Polen, der Slowakei und Slowenien und die Auswirkungen auf die Rechtsstaatlichkeit“ auf‐ merksam zu machen. Die Untersuchung bestätigt, dass der „politisierte Charakter von Asyl und Migration“ dazu geführt hat, dass einschlägige EU‐Normen, UN‐Konventionen, die EMRK und innerstaatliche Normen nicht eingehalten werden. Bereiche der Nichtumsetzung reichen vom Zugang zum Verfahren über die persönliche Freiheit bis zur gerichtlichen Überprüfung: Einwanderungshaft, kollektive Ausweisung und Zugangsverweigerung zum Asylverfahren, Zugang zu Verschlusssachen in Fällen nationaler Sicherheit, Staatenlosigkeit, fehlende wirk‐ same Rechtsbehelfe gegen Ausweisung und Missachtung von Gerichtsanweisungen in Asyl‐ verfahren.

28

c) Kroatien

Auch Kroatien entschied sich ab etwa 2017, massenhaft Flüchtlinge mit Gewalt zurück über die Grenze zu drängen, was vielfach durch Videos dokumentiert ist. Das Land wartete auf die – Anfang Dezember 2022 schließlich erteilte – Vollmitgliedschaft im Schengen‐Raum. Dafür wollte und sollte es die Balkanroute geschlossen halten. Kroatien hatte Frontex‐Patrouillen 2017 beendet. Der ehemalige Frontex‐Chef Leggeri konnte deswegen 2020 auf Anfragen sei‐ nes Konsultativforums „zu erschütternden Berichten über systematische Pushbacks“ durch Kroatien schlicht antworten: „Wir haben keine solche Berichte bekommen.“ – Eben weil Frontex nicht mehr „vor Ort“ war.

EU‐Parlament, Rat und Kommission haben nun den Beitritt Kroatiens zum Schengen‐Raum befürwortet, während NGOs weiterhin ihre Besorgnis über Kroatiens vergangene und andau‐ ernde illegale Zurückweisungen von Menschen auf der Flucht zum Ausdruck bringen. Sara Kekušfrom vom ECRE‐Mitglied Centre for Peace Studies (CMS) sagte, dass die kroatische Po‐ lizei weiterhin Pushbacks durchführe, „und wir sehen Vorschläge, interne Pushbacks zu lega‐ lisieren“. Eine andere NGO berichtete von einer Gruppe von acht Personen, die von kroati‐ schen Polizeihunden gebissen und bedroht wurden. Kroatien streitet die Anschuldigungen ab.

In einer gemeinsamen Erklärung von acht NGOs heißt es, dass die Entscheidung des Rates, Kroatien in die Zone aufzunehmen, „die Verpflichtung der EU zu den Grundrechten missach‐ tet“ und „ein Symptom für einen übergeordneten politischen Imperativ der EU ist, der immer wieder die Grundrechte für das opfert, was als Grenzsicherheit dargestellt wird“. Die Organi‐ sationen fordern, dass der Schwerpunkt auf die Reform des kroatischen Grenzüberwa‐ chungsmechanismus gelegt wird und Hinweise der kroatischen Ombudsperson und NGOs bei Evaluierungen sowie die Sicherstellung der Zusammenarbeit Kroatiens mit den Menschen‐ rechtsaufsichtsorganen berücksichtigt werden.

d) Bulgarien

Die Recherche‐NGO Lighthouse‐Reporting veröffentlichte Mitte Dezember Aufnahmen meh‐ rerer „Black Sites“ – Geheimgefängnisse, käfigartige Baracken in Sredez, im Süden Bulgariens, direkt neben der dortigen Polizeistation. Dort werden Flüchtlinge entlang der EU‐ Außengrenze vor einer Abschiebung eingesperrt. Alles daran ist illegal: die Bedingungen der Internierung, die Einrichtung als solche, die Misshandlungen, die Abschiebung ohne Asylver‐ fahren. Mittendrin: Frontex‐Mitarbeiter. Wiederholt besuchten die Lighthouse‐Recher‐ cheure den Ort und fotografierten „dreimal Autos mit Frontex‐Marken, die nur wenige Meter vom Käfig entfernt geparkt waren“, heißt es in ihrem Bericht. Interne Dokumente zeigten, dass in Sredez „zehn Frontex‐Beamte im Rahmen der Operation ‚Terra‘, der größten Landoperation der Agentur, stationiert sind“.

Weiter veröffentlichte Lighthouse Reports Aufnahmen, die den Flüchtling Abdallah Moham‐ med zeigten, der an der bulgarisch‐türkischen Grenze mit scharfer Munition beschossen wurde. Mohammed sagt, dass die Art und Weise, wie auf ihn geschossen wurde, direkt und mit offensichtlicher Tötungsabsicht erfolgte, da der Abstand zwischen ihm und dem Grenz‐ beamten nur 10 ‐ 14 Meter betrug. Bulgarien kommentierte, seine Grenzschutzbeamten wa‐ ren vor Ort, bestritten jedoch, den Schuss abgegeben zu haben. „Es gibt keine Fälle von Ge‐ walt gegen Migranten“, sagte der bulgarische Innenminister Demerdzhiev: „Beide Seiten (die türkische und die bulgarische) sind zu dem Schluss gekommen, dass es keine Beweise dafür gibt, dass ein bulgarischer Grenzpolizist einen Schuss abgegeben hat und dass keine aktiven Maßnahmen ergriffen wurden, um Menschenrechte zu verletzen“, obwohl Zeugenaussagen von Flüchtlingen und Analysen von investigativen Medien das Gegenteil beweisen. Die Ana‐ lyse des Films und Augenzeugenberichte belegen, dass „der Schuss genau von der Stelle kam, an der bulgarische Wachen standen“.

Die EU‐Kommission forderte Bulgarien auf, den Vorfall „gründlich zu untersuchen“. EU‐ Innenkommissarin Johansson erklärte fast gelichzeitig: „Bulgarien und Rumänien haben die

Außengrenzen noch besser geschützt, als bei der ersten Inspektion der Kommission im Okto‐ ber“.

3. Zentrale Mittelmeerroute

29

Nach Einschätzung der EU‐Kommission ist die zentrale Mittelmeerroute nach wie vor die am häufigs‐ ten genutzte Migrationsroute. Fast alle Menschen, die dort unterwegs waren, kamen in Süd‐Italien an. In Malta ging demgegenüber die Zahl erheblich zurück. Das italienische Innenministerium zählte bis Mitte Dezember 2022 mehr als 98.000 Menschen (2021: ca. 63.000). Die neue italienische Regierung geht weiterhin intensiv gegen zivile Seenotretter vor. Ihre neue Strategie ist, den Schiffen Adria‐Häfen im Nordosten Italiens zuzuweisen. So musste z. B. die „Ocean Viking“ Mitte Dezember mit 113 geret‐ teten Flüchtlingen den Adriahafen Ravenna anlaufen, knapp 1.700 km entfernt vom Einsatzort, an dem Schiffbrüchige aufgenommen wurden. Die Fahrt zum zugewiesenen Hafen dauert ca. vier Tage.

Die zentrale Mittelmeerroute bleibt die gefährlichste: Laut IOM‐Statistiken ertranken auf dieser Route 2022 mindestens 1.362 Menschen oder gelten als vermisst. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher lie‐ gen.

Auf der Route ereigneten sich allein Anfang Dezember zahlreiche weitere tödliche Unfälle. Mindestens vier Menschen, darunter zwei Kinder im Alter von 6 Monaten und 6 Jahren, werden nach einem Schiffs‐ unglück vor Lampedusa vermisst. 32 Menschen wurden von der italienischen Küstenwache gerettet. Die NGO Hotline Alarm Phone meldete Anfang Dezember mehrere Notfälle: Am 4. Dezember wurden 39 Menschen, die von Benghazi, Libyen, aufgebrochen waren, als in Not geraten gemeldet und von der italienischen Küstenwache gerettet. Weitere 450 Menschen wurden am 5. Dezember vor Sizilien in Seenot gemeldet, nachdem sie Libyen verlassen hatten, und wurden ebenfalls von der italienischen Küstenwache gerettet. Am 6. Dezember wurden Berichten zufolge 32 Menschen vor Sizilien gerettet, nachdem sie den Kontakt zu Alarm Phone verloren hatten. MSF Sea meldete am 4. Dezember die Ret‐ tung von 74 Menschen, darunter viele Kinder, und am 5. Dezember die Rettung von weiteren 90 Men‐ schen, darunter 35 Kinder, womit sich die Gesamtzahl der Überlebenden an Bord des Schiffs Geo Ba‐ rents in 24 Stunden auf 164 Überlebende, darunter 50 Kinder, erhöhte. Mit einer weiteren Rettungs‐ aktion am 6. Dezember, bei der 90 Menschen, darunter zwei schwangere Frauen und mehr als 30 Kin‐ der, gerettet wurden, stieg die Zahl der Überlebenden, die auf die Ausschiffung an Bord der Geo Ba‐ rents warten, auf 254. In einer gemeinsamen Rettungsaktion von Louise Michel und SOS Humanity am 4. Dezember wurden 103 Menschen gerettet. Am 6. Dezember meldete SOS Humanity eine weitere Rettungsaktion mit den Worten: „Heute Morgen wurde ein weiteres Boot in Seenot gesichtet – dies‐ mal ein stark überfülltes Schlauchboot mit mehr als 100 Menschen.“ Am 7. Dezember warteten 261 Überlebende trotz mehrerer Anfragen bei den zuständigen Behörden noch auf die Ausschiffung. Am Abend hieß es: „33 Personen von einem anderen Boot in Not gerettet – die 5. Rettung, an der die Louise Michel innerhalb von weniger als 2 Tagen beteiligt war“.

Zivile Retter und die Menschen, die unterwegs sind, sind nicht nur den Herausforderungen des Mittel‐ meers ausgesetzt, auch die von der EU unterstützte so genannte libysche Küstenwache sorgt für stän‐ dige Schikanen und Gefahren. Nach Angaben von IOM: Vom 27.11. bis 03.12. wurden 633 Migranten abgefangen und nach Libyen zurückgebracht“. Die Gesamtzahl für 2022: 21.457 aufgegriffene und zu‐ rückgeschickte Migranten und 1.362 Tote oder Vermisste im zentralen Mittelmeer bis zum 3. Dezem‐ ber. Eine Krankenschwester auf Humanity 1 erklärte, dass Überlebende, die Libyen erlebt hatten, „An‐ zeichen von Folter“ aufwiesen, darunter „Stichwunden, Verbrennungen durch Zigaretten, gebrochene Rippen aufgrund wiederholter Schläge, Anzeichen von sexuellem Missbrauch. Auch Männer wurden vergewaltigt und gruppenvergewaltigt, u. a. mit Schusswaffen“.

Nach einer Reihe von See‐Rettungsaktionen haben die von SOS Humanity betriebene Humanity 1 und die von MSF Sea betriebene Geo Barents mehr als 500 Überlebende an Bord genommen. Nach meh‐ reren medizinischen Evakuierungen und Überlebenden, die tagelang bei widrigen Wetterbedingungen auf dem Meer festsaßen, durften beide Schiffe am 11. Dezember in Italien landen. 261 Überlebende, darunter 23 Kinder unter 14 Jahren und über 60 unbegleitete Kinder der Humanity 1, gingen in Bari an Land, 248 Kinder, Frauen und Männer, die zwischen dem 4. und 6. Dezember an Bord der Geo Barents gerettet wurden, in Salerno.

30

Am 15. Dezember berichtete Alarm Phone von einem tödlichen Schiffsunglück vor Tunesien: Die tune‐ sischen Behörden hatten mitgeteilt, dass mindestens 4 Menschen beim Sinken ihres Bootes in der Nähe von Sfax ums Leben gekommen sind. 26 der 30 Personen an Bord konnten gerettet werden.

Mit Unterstützung von Sea‐Watch hat das Europäische Zentrum für Verfassungs‐ und Menschenrechte (ECCHR) vor kurzem beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) Klage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingereicht und erklärt, die Unterstützung und Zusammenarbeit der EU und ihrer Mit‐ gliedstaaten mit Libyen „zeigt die entscheidende Rolle, die hochrangige Beamte der EU‐ Mitgliedstaaten und EU‐Agenturen bei der Freiheitsberaubung von Migranten und Flüchtlingen auf der Flucht aus Libyen spielen“.

Nach dem jüngsten Scheitern der Zusammenarbeit zwischen den MS wurde ein Aktionsplan der Kom‐ mission zur „Bewältigung der unmittelbaren Herausforderungen entlang der zentralen Mittelmeer‐ Migrationsroute“ am 25. November von den EU‐Innenministern gebilligt. NGOs halten den Plan für undurchführbar und eine Wiederholung alter Fehler.

4. Östliche Mittelmeerroute

Die irregulären Einreisen entlang der Route haben sich – so die EU‐Kommission – im Vergleich zu 2021 verdoppelt, was vor allem auf einen erhöhten Migrationsdruck in Zypern zurückzuführen sei, auf das ca. 60 % der Ankünfte entlang der Route entfallen. An den Küsten der griechischen Inseln nahe der türkischen Westküste patrouillieren griechische Grenzschützer und Frontex. Dabei werfen NGOs Athen immer wieder illegale „Pushbacks“ vor. Griechenland baute den zunächst 35 km langen Grenzzaun zur Türkei um 80 weitere Kilometer aus. Am Ende soll die Grenze zur Türkei fast vollständig abgeriegelt sein.

5. Westliche Mittelmeerroute/Atlantikroute

Algerien und Marokko/Westsahara sind – so die EU‐Kommission, nach wie vor die wichtigsten Abrei‐ seländer in Richtung spanisches Festland und Kanarische Inseln. Etwa 30.000 Migranten erreichten bis Dezember 2022 Spanien. Die meisten setzen von Westafrika aus auf die kanarischen Inseln über.

Am 10.12.2022 berichtete die NGO Caminando Fronteras von einem tödlichen Schiffsunglück vor Ma‐ rokko, bei dem mindestens 49 Menschen ums Leben kamen und 56 Personen, darunter drei Babys, nach dem Versuch, die Kanarischen Inseln zu erreichen, vermisst wurden. Am 08.12.2022 bestätigten die spanischen Behörden die Bergung der Leichen von drei Menschen vor der Küste von Murcia in Südspanien, die nach der Abfahrt aus Algerien ums Leben gekommen waren. Berichten zufolge wurden sechs weitere Personen gerettet.

Im Oktober berichtete die IOM – Missing Migrants Project: Auf der westafrikanisch‐atlantischen Route zu den spanischen Kanarischen Inseln wurden im Berichtszeitraum 1.532 Todesfälle dokumentiert, eine Zahl, die bereits höher ist als in jedem anderen Zeitraum, seit die IOM im Jahr 2014 mit der Do‐ kumentation von Todesfällen begann. Seit 2014 wurden im westlichen Mittelmeer mehr als 2.000 tote oder verschwundene Migranten registriert, die meisten davon bei Schiffsunglücken auf der Übersee‐ route zum spanischen Festland.

Auch Überfahrten auf dem Landweg zu den Enklaven Melilla und Ceuta sind gefährlich. Die MMP ver‐ zeichnete mehrere Dutzend Todesfälle, die auf Gewalt, Krankheit und mangelnden Zugang zur medi‐ zinischen Versorgung zurückzuführen sind. In mehreren Fällen kam es an den Grenzzäunen im Zusam‐ menhang mit versuchten Grenzübertritten zu Unfällen.

„Le Monde“ hat gemeinsam mit MdB Clara Bünger/Fraktion „Die Linke“ Bilder analysiert und festge‐ stellt, dass Frontex die libysche Küstenwache mit Bildmaterial versorgt – was sie eigentlich nicht dürfte. Frontex, im Gegensatz zur libyschen Küstenwache mit Drohnen ausgestattet, spottet in Seenot gera‐ tene Geflüchtete im zentralen Mittelmeer und informiert darüber die libysche Küstenwache. Diese fährt in europäische Hoheitsgewässer, fängt die Geflüchteten ab und nimmt sie wieder mit nach Li‐ byen. Pull‐Back nennt sich diese Praktik. Frontex beteiligt sich also nicht an illegalen Pushbacks – denn das würde bedeuten, sie selbst fingen die Geflüchteten ab und schieben sie ohne Möglichkeit auf ein Asylverfahren wieder ab. Frontex verhilft „nur“ Libyen dazu, die Menschen zurückzuholen.

31

6. Illegale Grenzübertritte/FrontexStatistiken

Trotz neuer Zäune und umstrittener Kooperationen zur Abwehr von Migranten haben nach Angaben von Frontex illegale Grenzübertritte in die EU 2022 zugenommen. Frontex registrierte in den ersten elf Monaten ca. 308.000 Versuche – ca. 68 % mehr als 2021. Glaubt man den Zahlen von Frontex, gelang‐ ten bis November ca. 140.000 Migranten über den Balkan und die Länder des ehemaligen Jugoslawiens in die EU‐Staaten – 2 1⁄2 mal so viele wie 2021 und der höchste Wert seit 2015.

Eine neue Untersuchung zeigt, dass Frontex Aufgreifen und Rückführung nach Libyen erleichtert hat, was auf eine Mitschuld an Menschenrechtsverletzungen hindeutet. Anfang Dezember 2022 berichtete Human Rights Watch, Frontex setze seine Drohnen und Flugzeuge im Mittelmeer ein, um der libyschen Küstenwache die Koordinaten von Flüchtlingsbooten zu verschaffen. Die Boote werden dann auf dem Meer aufgebracht und zurück nach Libyen gebracht. EU‐Staaten ist es weiterhin verboten, selber nach Libyen abzuschieben.

Einem Bericht von Human Rights Watch und Border Forensics zufolge wurden mehr als 32. 400 Men‐ schen seit 2021 auf See gefangen genommen und von libyschen Streitkräften bzw. der „Küstenwache“ zurück nach Libyen gezwungen. Die Organisationen erklären: „Unsere Analyse zeigt, dass fast ein Drit‐ tel dieser Aufgriffe durch Informationen erleichtert wurde, die Frontex durch Luftüberwachung gesam‐ melt hat. Der Einsatz von Luftüberwachung durch Frontex, um die libysche Küstenwache in die Lage zu versetzen, Migrantenboote abzufangen, wohl wissend, dass Migranten und Asylsuchende systemati‐ schen und weit verbreiteten Misshandlungen ausgesetzt sind, wenn sie gewaltsam nach Libyen zurück‐ gebracht werden, macht Frontex zum Komplizen dieser Misshandlungen“.

IOM gab an, vom 4. bis 10. Dezember 2022 seien insgesamt 1.079 Menschen aufgegriffen und nach Libyen zurückgeschickt worden, 2022 insgesamt 22.544 Personen, darunter 752 Kinder.

Die neue Studie „Black Book of Pushback“ dokumentiert 25.000 gewalttätige Pushbacks in der gesam‐ ten EU. Die Untersuchungen unterstreichen die systematische Gewalt gegen Flüchtlinge und decken die Rolle der EU‐Fonds und ‐Agenturen bei deren Aufrechterhaltung auf. Das Schwarzbuch enthält nur die vom BVMN aufgezeichneten Zeugenaussagen. Die tatsächliche Zahl der Menschen, die an den Grenzen zurückgedrängt werden und Gewalt erfahren, ist wahrscheinlich viel höher, erklärte das BVMN in einer Presseerklärung und fügte hinzu, dass folgende Länder an diesen Praktiken beteiligt sind: Österreich, Italien, Griechenland, Slowenien, Kroatien, Polen, Ungarn, Rumänien, Serbien, Bos‐ nien‐Herzegowina, Montenegro, Kosovo, Bulgarien, Nordmazedonien und Albanien.

Zu Frontex‐Einsätzen in Ungarn und Kroatien zeigte Lighthouse Reports am 8. Dezember weitere Auf‐ nahmen eines Käfigs, in dem Flüchtlinge festgehalten und dann zurückgedrängt werden sowie Schiffscontainer in Ungarn und Gefängniswagen in Kroatien, die von den Behörden routinemäßig ein‐ gesetzt werden, um Menschen auf der Flucht zu inhaftieren und daran zu hindern, Asyl zu beantragen. Die Untersuchung ergab, dass diese Praktiken und Ausrüstungen teilweise mit EU‐Geldern finanziert und in einigen Fällen „unter den Augen von Frontex“ betrieben werden. Human Rights Watch schrieb, „Die EU‐Institutionen haben die Augen vor Missbrauch und Gewalt durch Grenzbeamte an den EU‐ Außengrenzen verschlossen“, und forderte die Kommission auf, die Finanzierung von Frontex einzu‐ stellen.

Immerhin: Mit deutlicher Mehrheit haben die EU‐ParlamentarierInnen zugestimmt, Frontex die Ent‐ lastung für das Haushaltsjahr 2020 zu verweigern: 345 Abgeordnete stimmten gegen Entlastung, 284 dafür, acht enthielten sich.

32

Schlussbemerkung
Welche EUInstitution kümmert sich in der Praxis noch um „europäische Werte“?

Business as usual auf EU‐Ebene – man konferiert, beschließt irgendetwas – und kaum ist die Tinte der Unterschriften unter den Vereinbarungen getrocknet, kümmert sich niemand mehr darum oder man streitet, wie etwas gemeint ist und praktisch umgesetzt werden sollte. Auch im 2. Halbjahr 2022 wur‐ den keine weiteren Verordnungen verabschiedet und das „Paket“ zum GEAS, das seit September 2020 vorliegt, nicht vorangebracht. Vielleicht ist dieser Stillstand sogar gut, denn anderes als „Abwehr ille‐ galer Zuwanderung“, Rückführung, Grenzverfahren, Grenzmanagement und „Zerschlagung von Schleusernetzen“ stand und steht ohnehin nicht auf der Agenda. Menschenrechte? Europäische Werte? Themen für Sonntagsreden.

Allerdings: Dass die EU Institutionen Unionsrecht an den Außengrenzen weder durchsetzen, noch die Kommission insbesondere Frontex zu dessen konsequenter Einhaltung verpflichtet, bedeutet eine rechtsstaatliche Krise. Die oben zusammengefassten Informationen zur Lage in Bulgarien, Ungarn, Kro‐ atien oder zum Verhalten von Frontex im Hinblick auf eine Zusammenarbeit mit der sog. „libyschen Küstenwache“ liegen seit Längerem dank der engagierten Arbeit verschiedener NGO’s reichlich vor und sprechen für sich. Die Kommission könnte Vertragsverletzungsverfahren bei Menschenrechtsver‐ stößen einleiten. Das BMI könnte prüfen, ob Frontex‐Einsätze mit Beteiligung der Bundespolizei been‐ det werden müssen, wenn sie gegen EU‐Recht verstoßen. Doch auf eine entsprechende Anfrage der linken Bundestagsabgeordneten Clara Bünger antwortete die Bundesregierung z. B. am 10.12.2022, sie sehe „keinen Anlass für einen Rückzug deutscher Beamtinnen und Beamten aus dem Frontex‐Ein‐ satz in Griechenland“.

Was anders als fortgesetzte Realitätsverleugnung ist, was EU‐Rat und Kommission da vorführen? Im Mai wird beschlossen, Italien 8.000 Flüchtlinge „abzunehmen“ und auf andere EU‐Staaten zu verteilen. Deutschland sagt die Aufnahme von 3.500 Menschen zu. 117 waren bis Mitte Dezember tatsächlich in Deutschland angekommen.

Hat sich die Situation an der polnisch‐belarussischen Grenze 2022 dank EU‐Intervention für die be‐ troffenen Flüchtlinge verbessert? Man ist geneigt, festzustellen: Selbstverständlich nicht. Und an der griechisch‐türkischen? Der bulgarischen? Der ungarischen? Der kroatischen? – siehe oben. Wo man hinschaut: Es ist ein Graus, unwürdig im Hinblick auf die „europäischen Werte“, die doch angeblich überall an den Außengrenzen gelten. Und wie gestaltet sich die Lage von Flüchtlingen, wenn sie trotz allem Griechenland, Belgien, Frankreich oder Ungarn erreicht haben? Die oben dargestellte Rechtspre‐ chung des EGMR, auch wenn sie leider viel zu oft erst Jahre nach den tatsächlichen Ereignissen zu Entscheidungen gelangt, zeigt, wie häufig auch in diesen Staaten die „europäischen Werte“ und die geltenden Rechtsnormen, z. B. die Richtlinie Aufnahmebedingungen, missachtet werden und Flücht‐ linge unversorgt in Obdachlosigkeit zu leben genötigt sind.

Die EU‐Institutionen loben sich unablässig dafür, dass sie 2022 die Richtlinie „Massenzustrom“ aktiviert und ukrainische Staatsangehörige aufgenommen haben – was allerdings ausschließlich für diese und nicht für Drittstaatsangehörige mit Aufenthaltsrecht in der Ukraine gilt – so wird auf europäischer Ebene das Zweiklassenflüchtlingsrecht etabliert. Menschenrechte gelten in gleicher Weise für alle? Also bitte: Wo soll das denn stehen?

Weiter: „Tragischerweise sterben immer noch viel zu viele Menschen auf dem Meer bei der Suche nach Schutz“ so UNHCR in einem Appell an die EU. Seit beinahe zehn Jahren ist das schon so, im Okto‐ ber 2013 ereignete sich zum ersten Mal eine große Schiffbruch‐Katastrophe vor Lampedusa. Seitdem folgten viele weitere – und die Rettungsschiffe, die Schiffbrüchige aufnehmen, werden weiter diskre‐ ditiert. Europäischer Wert: Menschen retten? Bloß: Wer macht’s – außer den engagierten NGO’s? EU‐ Agenturen und Institutionen jedenfalls vorzugsweise eher nicht.

Antonio Vitorino, Direktor von IOM erklärte, Migration müsse geregelt werden nicht in dem man Gren‐ zen schließt, sondern reguläre Kanäle für Zuwanderung öffnet. Zu wem sagt er das? Offenbar zu tau‐ ben Ohren in EU‐Kommission und Rat.